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115Katholischer
Pluralismus und die Gewalt der religioneros
Fazit
Wenn die Gewalt der religioneros als »katholisch« zu bezeichnen ist, dann
in dem Sinne, dass es ihr um die Bewahrung, ja die Rettung einer bestimm-
ten Art des Katholizismus ging, die durch das liberale Verbot der öffentli-
chen Religionsausübung bedroht war und bei der katholischen Elite Mexi-
kos zusehends an Rückhalt verlor. In den Augen der Katholiken, die sich
unter dem Banner der religioneros versammelten, stellten die Reformgesetze
nicht bloß einen lästigen juristischen Konflikt dar, sondern eine existen-
zielle Krise, drohten sie doch, die Bande zwischen mexikanischen Gemein-
schaften und ihren heiligen Schutzpatronen zu zerreißen. Ohne die Äcker,
aus denen sich die fiesta des Heiligen finanzierte, oder den Kirchplatz, auf
dem sie schließlich gefeiert werden konnte, ohne die Freiheit, den Heiligen
mit Musik, Prozessionen und Feuerwerk zu huldigen, drohte geradezu die
Auflösung dieses traditionellen Kosmos. Schwerer noch wog vielleicht, dass
die Kirchenleute und prominenten Laien, von denen man ein Eintreten für
die Tradition erwartet hatte, ebendies unterließen. Aus Sicht letzterer war
Gewalt freilich überflüssig: Ihr eher modern und kosmopolitisch ausgerich-
teter Katholizismus bedurfte nicht solch volkstümlichem Prunk und hielt
zur Wiederbelebung des Glaubens eine Reihe gewaltloser Strategien bereit.
Doch die neue Herangehensweise des Klerus, sich dem liberal-rechtsstaat-
lichen Diskurs anzuverwandeln und den Glauben nach innen zu wenden,
muss den religioneros besonders sauer aufgestoßen sein, schien er doch selbst
loyale Katholiken in die Angriffe auf den Glauben zu verwickeln.
In diesem Licht erscheint die gezielte Gewalt der religioneros gegen mit
der Regierung zusammenarbeitende Zivilbeamte, darunter auch fromme
Katholiken, verständlicher, denn sie enthielt eine Absage an die reformis-
tische Vorstellung, die Kirche könne dem Staat die Öffentlichkeit überlas-
sen, ohne dabei die fundamentale Beziehung zwischen Himmel und Erde
in Frage zu stellen. Die Gewalt der religioneros bezog sozusagen ihre Opfer
in dieses religiöse Weltbild ein, um mit Mark Juergensmeyer zu sprechen82.
Nicht nur, dass die Rebellen die »fremde« Weltanschauung des Säkularismus
verwarfen, sie verstießen auch diejenigen, die dem liberalen Staat dienten,
aus der Gemeinschaft der Katholiken. Nur »Protestanten« würden staatli-
che Angriffe dieser Art auf die öffentliche Religion mittragen, und »Protes-
tanten« verdienten den Tod. Da die andere Partei in diesem symmetrischen
Kampf sich der Parole »Religion« (d.h. Katholizismus) verschrieben hatte,
teilten die religioneros die Welt in zwei feindliche Lager: Die Ketzer, die den
Glauben gefährdeten, standen seinen Beschützern, den religioneros, gegen-
82 Siehe auch Mark Juergensmeyer, Terror in the Mind of God. The Global Rise of
Religious Violence, Oakland 32008.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918