Seite - 128 - in Glaubenskämpfe - Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
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128 Péter Techet
zwischen den Riten des Katholizismus, sie sahen nicht einmal zwischen dem
Katholizismus und der Orthodoxie eine Differenz, weil der Gott – wie etwa
eine befrage Dorfbewohnerin, Uršula Pregarc, betonte
– »derselbe« sei: »Wir
sind dieselben, die wir zuvor waren; wir glauben an den selben Gott, an den
wir davor geglaubt hatten. Lateinisch können wir nicht, wir wollen sloweni-
schen Gottesdienst«62.
Die Ablehnung gegenüber der institutionalisierten Kirche zeigte sich auch
darin, dass ab März 1903 Begräbnisse ohne priesterliche Assistenz stattfan-
den. Das Landes-Gendarmarie-Commando beschrieb ein solches Begräb-
nis am 25. März 1903 ziemlich detailliert: An der Spitze des Leichenzuges
marschierten ein alter Mann und ein Junge mit je einem großen Holzkreuz,
ihnen folgten die Gäste aus der ganzen Gegend (ca. 1 600 Menschen) und
eine slowenische Musikkapelle. Beim Grab hielt der Dorfvorsteher Ivan Ber-
don eine Rede. Gäste aus den umliegenden Dörfern seien bei solchen pseudo-
religiösen Zeremonien ebenso zugegen gewesen, sie hätten diese daheim –
wie der Bericht der Bezirkshauptmannschaft anmerkte
– einführen wollen63.
Ähnliche Fälle – unabhängig von den Ereignissen in Ricmanje – traten auch
in einem anderen Kirchenstreit zwischen 1908 und 1910 in Drenova (auf der
ungarischen Seite der Küstenregion) auf 64. In der kleinen Untergemeinde der
ungarischen Hafenstadt Rijeka / Fiume stand die Dorfgemeinschaft mit der
kirchlichen Obrigkeit, auch wenn aus anderen Gründen, ebenso im Konflikt.
Nicht nur die Begräbnisse und Taufen, sondern auch die Ehen wurden in
Ricmanje nicht mehr kirchlich (d.h. nach den von der römisch-katholischen
Kirche vorgeschriebenen Normen) begangen. Die örtliche Bezirkshaupt-
mannschaft behauptete sogar, dass der Dorfvorsteher Ivan Berdon den Leu-
ten im Dorf vom Heiraten abgeraten hätte65. Für die Paare, die dennoch hei-
raten wollten, führte Berdon Zeremonien ein, die äußerlich den katholischen
Trauungen ähnelten66.
Ivan Berdon war bei den »zivilen« Zeremonien (Begräbnissen, Taufen
und Hochzeiten) wie ein römisch-katholischer Priester gekleidet. Er ahmte
also – sowohl ästhetisch als auch inhaltlich – die katholischen Priester nach.
In dieser Praxis zeigt sich eine eindeutige und performative Ablehnung der
Amtskirche. Andererseits lagen dieser Ablehnung keine säkularen oder
62 Protokoll (24. März 1903), in: AST, C.d. Capodistria, Culto, b. 170, fol. 678.
63 Bericht des Landes-Gendarmarie-Commandos von Boljunec an die Bezirkshaupt-
mannschaft von Koper / Capodistria (26. März 1903), in: AST, Luogotenenza, AP,
b. 265, f. 4.1.5, 1903 / 717 (Über das »zivile« Begräbnis von Josip Pregarac und Ana
Kuret berichtete auch Edinost, 26. März 1903).
64 Vgl. Techet, Gewalt in der Kirche, S. 227–229.
65 Bericht des Landes-Gendarmarie-Commandos von Boljunec (26. Oktober 1904), in:
AST, C.d. Capodistria, Culto, b. 170, fol. 1236.
66 Bericht des Landes-Gendarmarie-Commandos von Boljunec (2.
Dezember 1904), in:
AST, C.d. Capodistria, Culto, b. 170, fol. 1233.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918