Seite - 164 - in Glaubenskämpfe - Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
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164 Tim Buchen
Zum einen erfasste der politische Wettbewerb durch das schrittweise
ausgeweitete Wahlrecht immer weitere Kreise der männlichen Bevölke
rung. Die konkurrierenden politischen Parteien und Angebote polarisierten
noch die entlegenste Dorfgemeinschaft und überführten soziale, religiöse
oder sprachliche Differenz in moderne politische Identifikationen. Zugleich
band der Wettbewerb um Stimmen und die allgemeine Anerkennung der
Parlamente als relevante Orte der Interessenartikulation sogar miteinander
verfeindete Lager in einen gemeinsamen politischen Betrieb ein. Auch die
massiven Verwerfungen im ökonomischen Leben durch die Aufwertung der
Geldwirtschaft und Einbindung in überregionale Märkte als Konsequenz
liberaler Wirtschaftspolitik führte zu Unsicherheiten und Konflikten. Beide
hier untersuchten Gewaltwellen waren zugleich Ausdruck von Statusver
schiebungen und Mittel der Aushandlung. Beide standen zudem in engem
Zusammenhang mit der Politisierung der bäuerlichen Unterschichten durch
den römisch
katholischen Klerus. Über religiöse Mobilisierung, d.h. die
Ansammlung von Menschenmassen durch Priester an religiösen Orten und
Feiertagen im Namen der katholischen Kirche, versuchten Priester die reli
giöse Identifikation mit neuen sozialpolitischen Codes anzureichern. Neben
Glaubenssätzen und religiösen Praktiken sollten politische Meinungen und
ein verändertes Handeln im Alltag implementiert werden, um sozialen Pro
blemen der sich modernisierenden Lebenswelt zu begegnen. Dies trug jedoch,
meist ungewollt, zu einer Kanalisierung von Konfliktlagen durch physische
Gewalt entscheidend bei.
Dieses Kapitel untersucht den Einfluss religiöser Vorstellungen und kle
rikaler Mobilisierungsstrategien auf die Entfesselung, den Verlauf und die
Deutung der Gewaltwellen von 1846 und 1898. Es wird gefragt, welche
religiösen Vorstellungen sich in den Gewalthandlungen und in sie beglei
tenden Sprechakten äußerten4. Welche religiösen Normen rechtfertigten
oder begrenzten das gewaltsame Aufbegehren gegen christliche Eliten und
Juden? Welche Differenzen innerhalb des Katholizismus kamen durch die
Gewaltdynamik zum Ausdruck und welche neuen entstanden? Der relativ
lange Untersuchungszeitraum zeigt Kontinuitäten und Brüche im Verhält
nis zwischen Gläubigen und kirchlichen Akteuren sowie in deren gemein
schaftlicher Konstruktion von Feindbildern des »katholischen Volkes« auf.
Im Kontext der politischen Positionierung der katholischen Kirche sowie der
Entfaltung moderner Massenpolitik in der Habsburgermonarchie nach 1867
kann die Geschichte religionsbezogener Gewalt in Galizien zugleich einen
4 Siehe zum Verhältnis von Gewalt und Sprechakten den Essay »Vom Spiel zur Hand
lung« in Helmut Walser Smith, Fluchtpunkt 1941. Kontinuitäten der deutschen
Geschichte, Stuttgart 2010, S. 132–188.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918