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169Kollektive
Gewalt und die religiöse Politisierung von Bauern
Auch wenn die Ordnung in Galizien nach einem massiven Militärein
satz schließlich wiederhergestellt und mit der Abschaffung der Fronpflich
ten durch den galizischen Statthalter 1848 befriedet werden konnte, war
der blutige Februar 1846 ein einschneidendes historisches Ereignis. Es ver
änderte die Beziehung und wechselseitige Wahrnehmung von Adel, Klerus
und Bauern, spaltete die von Eliten imaginierte polnische Nation und wurde
innerhalb der Stände völlig anders erinnert, wie schon die unterschiedli
chen Bezeichnungen – »Rabatz« oder »Schlachten« – suggerieren. Die Bau
ernschaft memorierte in Liedern und Gedichten die Selbstermächtigung als
Ausweis ihrer physischen Potenz, die sich in Krisenzeiten gegen ungerechte
Herrscher erheben könne. Das Singen der Lieder nutzte sie in Konfliktsi
tuationen, um mit dem Drohpotenzial der Wiederholung der Gewalt ihre
Widersacher zum Einlenken zu bewegen20. Innerhalb des Adels bedeutete
1846 ein Trauma. Zu Jahrestagen erscheinende Gedenkbücher und Gemälde
erinnerten an lokale Ereignisse und die Opfer des Martyriums. Ähnlich
traumatisch waren die Ereignisse für den katholischen Klerus. Er hatte zur
Kenntnis nehmen müssen, dass sogar die eigene Sicherheit auf dem Spiel
stand, wenn die bäuerlichen Wünsche und Wahrnehmungen, die hinter
den Mobilisierungsgerüchten standen, öffentlich als sündhaft und unwür
dig gebrandmarkt wurden. An Ausbruch und Verlauf der Gewalteskalation,
die sich schließlich auch gegen den Klerus richtete, trugen viele Priester eine
ungewollte Mitschuld.
Es ist in der allgemeinen, auf nationale und soziale Fragen fokussierten
Geschichtsschreibung weitgehend unbemerkt geblieben, dass der »Rabatz«
eine wichtige religiöse Dimension besaß. Seit dem Frühjahr 1845 hatten
Priester nämlich massenhaft Wallfahrten veranstaltet, auf denen Bauern
öffentlich dem Alkohol oder zumindest dem Wodka abschworen21. Damit
suchten sie nicht nur ein zentrales Übel des sprichwörtlichen »galizischen
Elends« zu bekämpfen, sondern griffen zugleich tief in die ökonomischen
und sozialen Beziehungen und Strukturen der agrarischen Lebenswelt ein.
Die Nüchternheitsbewegung des katholischen Klerus operierte auch mit anti
jüdischen Stereotypen, wonach die Juden die Bauern zum Trinken verführ
ten und sie mit Alkohol manchmal tagelang in ihren Schenken »festhielten«
und somit sowohl physisch als auch moralisch von der Kirche fernhielten22.
20 In einem populären Lied lautete es: »Erinnerst du dich mein Herr, an das Jahr 46?
Wie dich die Bauern mit Stockschlägen verjagten?«, zitiert nach Roy F. Leslie, The
History of Poland since 1863, Cambridge 1980, S. 8.
21 Siehe auch Kracik, W Galicji trzeźwiejącej.
22 So auch in den zur Nachahmung auch in Buchform publizierten »Predigten gegen die
Trunksucht« eines Priesters aus Tarnów; Michał Król, Kazania przeciw pijaństwu
przed zaprowadzeniem towarzystwa wstrzemięźliwości – w tarnowskiéj katedrze,
Tarnow 1845.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918