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170 Tim Buchen
Die Wallfahrten mit Abstinenzgelöbnissen fanden eine fulminante Reso
nanz. Sie bedienten ein weit verbreitetes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit für
die soziale Lage der Bauern und Veränderung ihrer schwierigen Situation.
Damit verkörperten sie den tiefgreifenden Wandlungsprozess der dörflichen
Lebenswelt und trugen zu deren allmählicher Einbindung in politische Dis
kurse und Entwicklungen bei23. Während die öffentliche Wirksamkeit und
repräsentative Bedeutung der Nüchternheitsbewegung unbestreitbar sind,
waren die Folgen jedoch höchst unterschiedlich und lokal divers. Einerseits
führten viele Gelöbnisse in der Tat zu nachhaltiger Abstinenz; das Abschwö
ren wurde fester Bestandteil einer neuen, religiös begründeten Identifikation
als verantwortliche Bauern. Andererseits begannen viele nach kürzester Zeit
erneut sich regelmäßig heftig zu betrinken. Häufig richteten sie den im Zitat
beschriebenen Zorn und Widerwillen gegen Priester, die sich weiterhin um
Nüchternheit bemühten und Rückfällige öffentlich denunzierten. So ent
standen Bruchlinien innerhalb von Dorfgemeinschaften, in Verächter und
Befürworter der Abstinenzbewegung. In aller Kürze zeigt sich hierin das
von Abigail Green beschriebene Phänomen der Politisierung der Religion im
19.
Jahrhundert 24. Glaubensgemeinschaften verwandelten sich in Meinungs
gemeinschaften. Das Verhältnis zu Alkohol und traditionellen dörflichen
Trinkgewohnheiten wurde zu einem neuen religiösen und zugleich sozial
politischen Code.
Vor dem Hintergrund dieser neuen Identitäts und Konfliktpotenziale
um Alkoholkonsum vor Ort und nicht in abstrakten, der Dorfwelt frem
den nationalen Kategorien, interpretierten viele Bewohner Westgaliziens die
Gerüchte um den bevorstehenden Aufstand im Winter 1846. Da die Schenke
ein etablierter Ort des Informationsaustausches war, sich dort aber überwie
gend Gegner der Abstinenzbewegung aufhielten, deren Trinkverhalten in
jüngster Zeit in die Kritik geraten war, bezogen sie an vielen Orten die Nach
richten wie selbstverständlich auf die für sie zentrale Auseinandersetzung
um Nüchternheit oder traditionelle bäuerliche Geselligkeit. Vielfach wurde
hier das Gerücht verbreitet, dass mit dem Aufstand eine vollständige Absti
nenz gewaltsam durchgesetzt werden sollte. Mehrfach sollen die Schankwirte
selbst diese Verschwörungstheorie zum Besten gegeben haben25. Anhänger
der neuen Nüchternheit behaupteten im Gegenteil, dass der am Alkohol
gutverdienende Adel mit dem Umsturz die erreichten Errungenschaften
der Nüchternheitsbewegung zunichtemachen wolle. In beiden Fällen zeig
ten sich Mechanismen der mündlichen Organisation kollektiver Gewalt, in
23 Vgl. Struve, Bauern und Nation.
24 Vgl. Abigail Green, Nationalism and the »Jewish International«: Religious Interna
tionalism in Europe and the Middle East c. 1840–1880, in: Comparative Studies in
Society and History 50 (2008), H. 2, S. 535–558.
25 Vgl. Kracik, W Galicji trzeźwiejącej, S. 50.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918