Seite - 172 - in Glaubenskämpfe - Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
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172 Tim Buchen
Lektionen aus der Gewalt:
Der Klerus und die politische Mobilisierung der Bauern, 1846–1898
Der »Rabatz« markierte einen Wendepunkt in der Geschichte religiöser
Mobilisierung der galizischen Bauernschaft sowie im Agieren der katholi
schen Geistlichkeit innerhalb der politischen Öffentlichkeit der Habsbur
germonarchie. Der Klerus war entsetzt über die Brutalität der Bauern und
veränderte seine Strategie im Umgang mit ihnen. Da die Nüchternheitskam
pagne zu der Tragödie entschieden beigetragen hatte, unterließen Priester
über Jahrzehnte nahezu jegliche Bemühungen einer rapiden Veränderung
der bäuerlichen Lebenswelt, die zu Polarisierungen und Mobilisierungen
führen könnten31. In diesem Sinne wurde der vom 1848 gekrönten Kaiser
Franz Joseph eingeschlagene neo absolutistische Kurs vom galizischen Kle
rus entschieden mitgetragen. Erneuerungen wie die Aufhebung der Leibei
genschaft sollten von oben initiiert sowie die Autorität von Thron, Militär
und Altar gestärkt werden, um revolutionäre Eigendynamiken wie in den
Krisenjahren 1846–1849 zu verhindern. Die Zurücknahme der liberalen
Kremsierer Verfassung und das 1855 geschlossene Konkordat stärkten den
Einfluss der Kirche im habsburgischen Staat 32. Von diesen Entwicklungen
bestätigt, warnte der hohe Klerus auch in Galizien eindrücklich vor den
unabsehbaren Folgen einer Emanzipation und »Aufwiegelung« der Bauern
gegen die etablierte Ordnung. Der Verweis auf die schlummernde dunkle
und unberechenbare Seite der Unterschichten, auf ihre »Instinkte« und Ver
führbarkeit zur Gewalt avancierte zum wirksamen Argument gegen liberale
und demokratische Forderungen nach einer Änderung des Status Quo33.
Die patriarchalische Entmündigung der ungebildeten Bauern, wie auch
ihre Exotisierung als ursprünglich, impulsiv und instinktgeleitet zeigte neue
Folgen, nachdem das neo absolutistische Jahrzehnt in die Ära des Libera
lismus überging. Durch antiklerikale Rhetorik und Forderungen nach der
Trennung von Staat und Kirche gerieten die Privilegien der katholischen Kir
che in Staat und Gesellschaft seit den 1860er Jahren unter Druck. Mit dem
österreichisch
ungarischen Ausgleich von 1867 wurde das Konkordat wieder
aufgehoben. Die im gleichen Jahr eingeführte liberale Verfassung beschnitt
viele Vorrechte der Kirche und wurde von Papst Pius IX. mit der Enzyk
31 Noch um die Jahrhundertwende forderte der Statthalter Galiziens Alfred Potocki den
Lemberger Erzbischof Franciszek Wierzchlejski auf, seinen Untergebenen die Ver
sammlung von Bauern zu verbieten, da sich daraus wieder ein »Rabatz« entwickeln
könne; Franciszek Kącki, Ks. Stanisław Stojałowski i jego działalnosc społeczno
polityczna, Lemberg 1937, S. 109.
32 Siehe auch Laurence Cole, The Counter
Reformation’s Last Stand: Austria, in:
Christopher M. Clark / Wolfram Kaiser (Hg.), Culture Wars. Secular Catholic
Conflict in Nineteenth Century Europe, Cambridge 2003, S. 285–312.
33 Siehe auch Franciszek Ziejka, Złota legenda chłopów polskich, Warschau 1984.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918