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173Kollektive
Gewalt und die religiöse Politisierung von Bauern
lika Vix Dum a Nobis verurteilt; stattdessen forderte er den Klerus auf, sich
den liberalen Bestrebungen nach staatlicher Schulaufsicht und Zivilehe zu
widersetzen. Zugleich sorgte die Abschaffung der Zensur, die Einrichtung
der Parlamente in Wien und Budapest sowie eine schrittweise Demokrati
sierung des Wahlrechts in den Abgeordnetenhäusern der einzelnen Kron
länder dafür, dass ein stetig wachsender Anteil der männlichen Bevölkerung
in den politischen Wettbewerb eingebunden wurde. Dabei warnten katho
lische Stimmen vor den unabsehbaren Auswirkungen einer Auflösung der
umfassenden kirchlichen Fürsorge für die ungebildeten Bevölkerungsteile
und deren Preisgabe an Parteien, die mit ihren unverantwortlichen Verspre
chungen den unerfahrenen Wählern angeblich den Kopf verdrehen wür
den. Viele Kleriker verwiesen unter Bezugnahme auf den »Rabatz« von 1846
auf die Volatilität der Unterschichten, die, ähnlich wie Kinder, noch nicht
zurechnungsfähig seien34. Diese konservative Kritik an der demokratischen
Massenpolitik blieb auch präsent, als viele Katholiken bereits mit Zeitun
gen, Vereinen und Parteien darin mitmischten, um der Stimme Roms Gehör
zur verschaffen35.
Anders als in der Nüchternheitskampagne der 1840er Jahre zielten die
rhetorischen Bemühungen des Klerus in diesem Kulturkampf nicht länger
auf ein geändertes, bislang schädliches Verhalten der Gläubigen ab, sondern
externalisierten das Übel außerhalb der katholischen Sphäre. Predigten und
Artikel in der katholischen Presse gegen den vermeintlich gottlosen Libera
lismus, die sich auf päpstliche Schriften wie den Syllabus Errorum berufen
konnten, ließen Bedrohungsszenarien entstehen und mobilisierten Gläubige
verstärkt gegen die als Zumutung verstandenen Eingriffe des Staates in die
eigene Lebenswelt. Insbesondere die Zivilehe, die Gleichstellung der Glau
bensbekenntnisse und die Überführung der Schulaufsicht an den Staat lös
ten heftige Reaktionen im ultramontanen Milieu aus. Auch die von den libe
ralen Parteien geforderte Trennung von Staat und Kirche wurde als Angriff
auf das katholische Leben verstanden. Da Juden in der liberalen Presse und
in liberalen Parteien deutlich sichtbar waren, deuteten viele Ultramontane
die Angriffe auf die kirchliche Macht als eine jüdische Verschwörung gegen
das Christentum. Das Einwirken dieser ultramontanen Kräfte auf den poli
tischen Wettbewerb war entscheidend für die Ablösung des politischen
Liberalismus durch einen neuen Konservatismus. Zwei Jahrzehnte, in den
1860er und 1870er Jahren, hatten die Deutschliberalen die österreichische
Regierung dominiert und mit der Verfassung von 1867 eine gesellschafts
34 Siehe auch Józef Ryszard Szaflik, O rza̧d chłopskich dusz, Warschau 1976.
35 Siehe auch David I. Kertzer, Die Päpste gegen die Juden. Der Vatikan und die Ent
stehung des modernen Antisemitismus, übersetzt von Klaus
Dieter Schmidt, Mün
chen 2004.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918