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177Kollektive
Gewalt und die religiöse Politisierung von Bauern
Der intensiv geführte Wahlkampf der rivalisierenden Bauernparteien
und der Sozialdemokratie im Herbst 1897 wurde kurz danach wieder auf
genommen, da der Tod zweier Abgeordneter der fünften Kurie eine Nach
wahl erforderte. Die massive antisemitische Agitation und Zirkulation der
genannten Jüdischen Geheimnisse flammte wieder auf und verband sich nun
in der mündlichen Kommunikation auf dem Land mit den Vorkommnissen
in Wieliczka. An mehreren Orten kursierten Gerüchte, wonach die Juden
bestraft werden sollten bzw. bald eine richtige »Abrechnung« mit ihnen erfol
gen werde. Sie verdichteten sich vor den zahlreichen katholischen Festen, die
im Frühsommer über Wallfahrten, Prozessionen und Jahrmärkte größere
Menschenmengen versammelten. Bei diesen Gelegenheiten kamen galizi
sche Bauern in Städte, die einen hohen jüdischen Bevölkerungsanteil hat
ten. Die Erwartung einer bevorstehenden Bestrafung der Juden wurde nun,
nachdem sich das Gerücht um den entführten Priester als falsch erwiesen
hatte, mit einem angeblich geplanten, aber misslungenen jüdischen Anschlag
auf den Kaiser begründet 42. Zur Strafe habe Franz Joseph seinen (katholi
schen) Untertanen erlaubt, für einen festen Zeitraum die Juden zu schlagen
und auszurauben. In manchen Fällen wurde diese Erlaubnis auch dem bereits
längst verstorbenen Kronprinzen Rudolph oder sogar dem Papst zugerech
net. Eine Bestätigung des Hörensagens suchten und fanden die überwiegend
nicht alphabetisierten Bauern in den unterschiedlichsten Schriftstücken,
die allesamt auf Autoritäten außerhalb der dörflichen Welt zurückgingen.
So interpretierten einige die rote Farbe der Plakate, die an Pfingsten zu
einer Feier zu Ehren des Dichters Adam Mickiewicz in den Wallfahrtsort
Kalwarya Zebrzydowska einluden, als versteckten Hinweis auf ein bevorste
hendes Blutvergießen und sahen die Gerüchte darin bestätigt 43. Zuvor war es
in der Stadt bereits zu einem merkwürdigen Zwischenfall gekommen, als die
Werbezettel für einen Fleckenentferner, den ein Handelsreisender in einem
Geschäft angepriesen hatte, sich plötzlich größter Nachfrage erfreuten. Viele
sahen in den Zetteln Erlaubniskarten zum Schlagen von Juden, da sie auf
eine amtliche, kaiserliche Autorisierung oder Anordnung der Bestrafung
warteten44.
42 Die Anleihen bei der Rechtfertigung der Pogrome im Zarenreich 1881 sind deutlich,
allerdings lassen sich auch frühere Unruhen in Galizien belegen, in denen Bauern
erzählten, dass lokale Adlige einen Anschlag auf den guten Kaiser in Wien geplant
hätten, um die Leibeigenschaft wiedereinzuführen. Siehe auch Alexey Miller, Do
charakterystyki wsi pouwłaszczeniowej w latach siedemdziesiątych XIX wieku.
Panika galicjska 1872 roku, in: Przegląd Historyczny 79 (1988), S. 103–107.
43 Tsentralnyi derzhavnyi istorychnyi arkhiv [im Folgenden: CDIAL] 146/4/3117, S. 40.
44 Umgangssprachlich wurden Tintenkleckse auch als »Juden« bezeichnet. Mit dem
Mittel könne man, so versprach die Werbung, die Tintenflecke problemlos entfer
nen. Archiwum Głowne Akt dawnych [im Folgenden: AGAD], Min. Spraw. 307/3.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918