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185Kollektive
Gewalt und die religiöse Politisierung von Bauern
ten Gewaltwellen fällt auf, dass neue Bruchlinien innerhalb der bäuerlichen
Gemeinschaften und Konflikte über die Rechtmäßigkeit der neuen, vom
Klerus formulierten Angebote ausschlaggebend waren. Sowohl 1846 als auch
1898 sollten die kollektiv begangenen Gewalttaten diese Brüche überwinden,
indem der gemeinsame Feind bestraft wurde. Auch die Rationalisierung der
Gewalt als Verteidigung des bedrohten Kaisers und damit eine gedachte Ein
tracht zwischen Herrscher und Untertanen verband beide Ausschreitungen.
1846 folgten die Bauern nicht einfach Autoritäten und deren Vorstellun
gen, sondern vielmehr eigenen Anliegen; sie instrumentalisierten die kur
sierenden Deutungsangebote und Inhalte zur Umsetzung persönlicher und
genuin bäuerlicher Ziele. Auch 1898 war die Gewaltdynamik maßgeblich von
Momenten und Motiven bäuerlicher Selbstermächtigung geprägt. Gerüchte
und Alkohol waren abermals entscheidende Katalysatoren. Zentral war die
religiöse Mobilisierung, also die Ansammlung von Menschenmengen durch
Priester an religiös konnotierten Orten oder im Namen der katholischen
Kirche. Nur fand die daraus entstehende Gewalt im Jahr 1898 in den Juden
einen religiösen »Anderen« als Opfer. Die Performanz von Macht und Ein
heit der Bauern markierte in der Herabsetzung eines feindlichen Kollektivs
eine ethnische Differenz, nicht mehr eine ständische, wie in den Konflik
ten von 1846. Religion und Politik waren in den »antisemitischen Exzessen«
untrennbar miteinander verwoben.
In beiden Fällen versuchte der Klerus mit massiven Kampagnen das Ver
halten der ländlichen katholischen Zielgruppe im Alltag zu verändern. Der
Kampf gegen den Alkohol 1846 und die Agitation für einen Boykott von
Juden fünfzig Jahre später waren Versuche, religiöse Identifikation mit neuen
sozialpolitischen Codes anzureichern. Mit dieser Politisierung der Religion,
die eine Glaubensgemeinschaft in eine Meinungsgemeinschaft verwandelte,
trug der Klerus zu neuen Spaltungen in den auf Einheit bedachten bäuer
lichen Dorfgemeinschaften bei. In beiden Wellen erfüllte die Gewalt die
Funktion, die verlorene Einheit der katholischen Bauern im gemeinsamen
Handeln und in geschlossener Opposition zu den Opfern als »Anderen« und
»Feinden« wiederherzustellen. Eine weitere notwendige Voraussetzung für
kollektive Gewalt in Galizien waren bevorstehende oder befürchtete Umbrü
che in Zeiten beschleunigter Statusveränderung und Unsicherheit. Der revo
lutionäre Aufstand von 1846 und der drohende Verlust kaiserlicher Obhut
schienen jedoch weitaus existentieller als die Gefahr einer Machtübernahme
säkularer und damit jüdischer Kräfte in Wien bei den erstmals die mittel
losen Unterschichten einbindenden Reichsratswahlen 1897. Dadurch erklärt
sich auch das niedrigere Gewaltniveau von 1898, da hier der Rahmen staat
licher Macht und Ordnung stabil und sichtbar blieb. In beiden Fällen ratio
nalisierten die Gewalttäter ihre Handlung als Verteidigung der Ordnung, die
durch Kaiser und Papst repräsentiert und als dezidiert christlich verstanden
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918