Seite - 195 - in Glaubenskämpfe - Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
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195Religion,
Kindheit und Gewalt im kolonialen Neuguinea um 1900
in Missionskreisen weit verbreitete europäisch-christliche Konstrukt einer
»heidnischen Kultur«, welche sich gegen den angestrebten religiösen und
kulturellen Wandel stellte und somit das verhinderte, was Missionare und
Missionsschwestern (genauso wie andere Kolonialisten und Kolonialistin-
nen auch) als »Zivilisierung« propagierten.
Die Missionare und Missionsschwestern auf Tumleo sahen sich in der Tat
mit indigenen Institutionen sowie sozialen und kulturellen Praktiken wie
Polygamie, Empfängnisverhütung oder Infantizid konfrontiert, welche sie
aus kulturellen und religiösen Gründen ablehnten und deren Fortbestand
sie als Zeichen eines von diabolischen Kräften getragenen »Heidentums«
interpretierten. Auch lokale Gewohnheiten des Bekleidens bzw. des Nicht-
Verhüllens bestimmter – entsprechend europäisch-christlichen Konstrukti-
onen sexualisierter – Teile des Körpers und deren Interpretation als unsitt-
liche Nacktheit belasteten die Beziehungen von Beginn an25. Im Besonderen
verstanden die Missionare und Missionsschwestern indigene Vorstellungen
und Praktiken von Sexualität sowie Formen der Verpartnerung, Eheschlie-
ßung, Scheidung und Wiederverheiratung als ungeregelt, unsittlich und
zutiefst sündhaft26. Stattdessen propagierten sie die monogame, sakramen-
tale und unauflösliche Ehe zwischen Mann und Frau als die einzig respekta-
ble Lebensform sowie als einzig legitimen Ort von einer auf Fortpflanzung
orientierten Sexualität. Da die Einführung dieser normativen europäisch-
katholischen Vorstellung und Praxis von Ehe und Sexualität jedoch auch
unter den getauften Einwohnern und Einwohnerinnen Tumleos nicht gelin-
gen wollte, kamen die Missionare und Missionsschwestern rasch zu dem
Schluss, dass die erwachsene Gesellschaft Tumleos zutiefst unsittlich sei und
man sich folglich ganz auf die Heranbildung neuer Generationen durch die
Schul- und Erziehungstätigkeit konzentrieren sollte27.
Die Erziehung einer neuen Generation indigener Katholiken und Katho-
likinnen sollte wiederum im Umfeld der Missionsstation geschehen, wo die
Kinder der »heidnischen Umgebung« und den
– als verderblich bewerteten
–
25 So traf der Plan der ersten Missionsschwestern, die Frauen der Insel zu bekleiden,
offenbar auf Widerstand. Eine Missionsschwester berichtete etwa sechs Monate nach
ihrer Ankunft: »Die meisten Frauen und Mädchen […] haben jetzt schon ein Kleid,
aber die Frauen ziehen es nicht immer an. Schwester Valeria hat die Frauen schon oft
weggejagt, wenn selbe ohne Kleider zur Schule kommen«; Sr.
Ursula Sensen, 17.
Sep-
tember 1899, in: AG SSpS PNG 6201, Korrespondenz 1899–1910.
26 Für eine vertiefte Diskussion, siehe auch Stornig, Sisters Crossing Boundaries,
S. 351–362.
27 Generalsuperior Arnold Janssen (1837–1909) schrieb an die Missionare in Neugui-
nea, er hoffe, dass es ihnen »auf die Dauer« gelinge »ein anderes Geschlecht dort
zu erziehen, welches die Kinder nicht tötet und auch die menschliche Fruchtbarkeit
nicht durch Gegengifte schädigt«; Arnold Janssen, 10. März 1903, in: Alt (Hg.),
Arnold Janssen – Briefe, S. 136–139, hier S. 138.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918