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Julie Kalman
Von gewaltsamen Handlungen zu gewaltsamem Hass
Französisch-katholische Reaktionen auf die Damaskus-Affäre
Am 5. Februar 1840 verschwand der in Damaskus wohnhafte Pater Tho-
mas mitsamt seinem Diener1. Pater Thomas war Kapuzinermönch, und sein
Orden stand unter dem Schutz der französischen Regierung. Dies bedeutete,
dass sein Verschwinden Angelegenheit des jüngst eingesetzten französischen
Konsuls war, unter dessen Zuständigkeit die Sicherheit der in Damaskus
wohnhaften französischen Staatsbürger fiel. Der Comte de Ratti-Menton
nahm seine Rolle in den Ermittlungen überaus ernst und beteiligte sich von
Anfang an an der Suche nach den mutmaßlichen Mördern des Paters ebenso
wie an deren strafrechtlicher Verfolgung. Zuletzt war der Geistliche im jüdi-
schen Viertel gesehen worden, wo er ein Plakat aufhängen wollte, folglich
gerieten dessen Bewohner alsbald unter Mordverdacht. Ratti-Menton war
von der Schuld der Juden überzeugt. Es müsse, folgerte der Konsul, sich um
einen Ritualmord gehandelt haben. Den Auftrag dazu habe der Oberrabbiner
der Gemeinde erteilt – er wurde schließlich festgenommen –, dem es darum
gegangen sei, das Blut eines Christen in den ungesäuerten Teig des Brotes
für das Pessachfest mischen zu können. Der Konsul verfolgte diese Theorie
unerbittlich. Alle Festgenommen wurden gefoltert. Vier von ihnen starben,
zehn weitere blieben monatelang im Gefängnis, während sich die Ermittlun-
gen draußen hinzogen. Einer der im Gefängnis getöteten Häftlinge
– der Tod
erfolgte in diesem Fall durch wiederholtes Auspeitschen – war ein jüdischer
Zeuge, der sich bei den Behörden gemeldet hatte und angab, er habe den Pater
in der Nacht seines Verschwindens vor dem Judenviertel beobachtet. Zum
Zeitpunkt dieser Aussage waren die Behörden bereits von der Ritualmord-
these überzeugt und taten alles in ihrer Macht stehende, um diese zu bewei-
sen. Diese Vorgänge werden seitdem als »Damaskus-Affäre« bezeichnet.
1 Jonathan Frankel hat den vermeintlichen Ritualmord sehr gründlich aufgearbeitet;
siehe auch Jonathan Frankel, The Damascus Affair. »Ritual Murder«, Politics, and
the Jews in 1840, Cambridge 1997. Dieser Beitrag baut auf meinen eigenen Forschun-
gen zum Fall auf; siehe auch Julie Kalman, Sensuality, Depravity, and Ritual Mur-
der. The Damascus Blood Libel and Jews in France, in: Jewish Social Studies: History,
Culture, Society 13 (2007), H. 3, S. 35–58.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918