Seite - 270 - in Glaubenskämpfe - Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
Bild der Seite - 270 -
Text der Seite - 270 -
270 Julie Kalman
Die Damaskus-Affäre fügt sich in eine lange Geschichte vermeintlicher
Ritualmorde. Im 19.
Jahrhundert war die Ritualmordlegende, auch als »Blut-
gerücht« bekannt, der zufolge es Juden auf das Blut eines christlichen Opfers
abgesehen hatten, bereits über Jahrhunderte entwickelt und ausgeschmückt
worden2. In der Geschichte gilt der englische Fall des Wilhelm von Nor-
wich im Jahr 1144 als erstes einschlägiges Beispiel3. Seitdem breitete sich die
Anschuldigung über ganz Europa aus. Ein zentraler Bestandteil des Mythos
war der junge Knabe als Opfer, dessen Unschuld und Reinheit seine jüdi-
schen Peiniger besonders anzögen. Während solche Ritualmordanklagen im
Mittelalter nicht unüblich waren, gelangten sie im 18. Jahrhundert seltener
vor Gericht. Zugleich wurden jedoch diejenigen Fälle, in der es zur Anklage
kam, uneinheitlicher. Juden, so das sich ändernde Bild, hätten es nun nicht
mehr ausschließlich auf Knaben abgesehen, sondern auch auf Mädchen sowie
erwachsene Männer und Frauen. Dennoch war der Fall in Damaskus unge-
wöhnlich, denn es ging um zwei erwachsene Männer, davon einer im Alter
von 62 Jahren, und zudem handelte es sich um den ersten Fall seiner Art in
einem muslimischen Land4. In seiner erschöpfenden Untersuchung der Aus-
sagen und der Mitschriften von Verhören kommt Jonathan Frankel zu dem
Schluss, dass zwei Punkte besondere Aufmerksamkeit verdienen: Zum einen
gab es innerhalb der christlichen Bevölkerung niemanden, der der Anklage
widersprochen hätte; zum anderen wurden, nachdem einmal die vermeint-
liche Ursache des Todes Pater Thomas’ feststand, die Einzelheiten des Fal-
les weitgehend frei erfunden. Frankel zufolge sei hier zu beobachten, »nicht
[die] Erfindung einer Tradition, sondern vielmehr deren Neuerfindung oder
Wiederbelebung« im kollektiven Gedächtnis der Damaszener Christen5. In
diesem Prozess kommt dem französischen Konsul Ratti-Menton eine tra-
gende Rolle zu.
Aufgrund der Beteiligung Ratti-Mentons wurde der Damaskus-Affäre in
Europa große Beachtung zuteil. Das allgemeine Interesse speiste sich jedoch
auch aus geopolitischen Faktoren, und die Bedeutung der Affäre über-
stieg schnell Erwägungen der Wahrheit oder auch nur der Plausibilität der
Anschuldigungen. Sie ging ein ins Spiel der internationalen Diplomatie, das
zu jener Zeit gezeichnet war vom Ringen zwischen den europäischen Mäch-
ten um Einfluss im Nahen Osten. In der Region kämpfte Ägypten gegen die
2 Eine geschichtliche Einordnung des Ritualmordvorwurfs haben u.a. geleistet: Alan
Dundes (Hg.), The Blood Libel Legend. A Casebook in Anti-Semitic Folklore, Madi-
son WI 1991; Ronnie Po-Chia Hsia, The Myth of Ritual Murder. Jews and Magic in
Reformation Germany, New Haven 1988; Emily M. Rose, The Murder of William of
Norwich. The Origins of Blood Libel in Medieval Europe, New York 2015.
3 Siehe auch Gavin Langmuir, Thomas of Monmouth. Detector of Ritual Murder, in:
Dundes (Hg.), The Blood Libel Legend, S. 3–40.
4 Vgl. Frankel, Damascus Affair, S. 29.
5 Ebd., S. 30, 52.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918