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271Französisch-katholische
Reaktionen auf die Damaskus-Affäre
Türkei um die Macht in Syrien und im Libanon; die Ägypter hatten Damas-
kus besetzt und ihrer faktischen Kontrolle unterstellt. England, Österreich
und Russland hatten sich zu einer losen Koalition zur Unterstützung der
Türken verbündet. Dagegen hatte Frankreich, womöglich aufgrund einer auf
Napoleon zurückgehenden Sympathie, auf Ägypten und seinen Herrscher
Muhammad Ali gesetzt6. Der vermeintliche Ritualmord von Damaskus fiel
in eine Zeit, da Ali die Präsenz seiner Truppen in Syrien verstärkte, und im
weiteren Verlauf der Affäre sollten die daraus hervorgehenden Spannungen
zwischen den europäischen Mächten noch eine Rolle spielen. Denn Pater
Thomas war zwar französischer Staatsangehöriger, doch unter den Beschul-
digten fanden sich auch Bürger Österreichs und Großbritanniens.
Allen Bemühungen und Protesten der anderen europäischen Regierungen
zum Trotz stellte sich heraus, dass allein die Franzosen auf Ali und auf das
Schicksal der Damaszener Juden einen wirklichen Einfluss ausüben konn-
ten. Folglich kam der Affäre große politische Bedeutung und Aufmerksam-
keit in Frankreich zu. In der Presse schlug sie Wellen: Insbesondere in den
katholischen Zeitungen fand die Vorstellung, Juden könnten nach wie vor
Ritualmorde begehen, mindestens so viel Beachtung wie die Frage franzö-
sischer Macht im Nahen Osten. War es möglich, dass Juden einen Mönch
mitsamt seinem Diener meuchlings ermordeten, um mit ihrem Blut unge-
säuertes Brot herzustellen? In ihrer Suche nach der »Wahrheit« ersparten
die katholischen Blätter ihren Lesern keine Einzelheit und keine Theorie.
Es wurde bildhaft dargelegt, wie Pater Thomas zu Tode gekommen war; zur
Untermauerung dienten Beispiele historischer Ritualmorde. Gewalt durch-
drang jeden Aspekt der Damaskus-Affäre. Im mutmaßlichen Mord an Pater
Thomas und seinem Diener war sie unausgesprochen und daher vorgestellt,
konkret wurde sie in der Folter jüdischer Zeugen und giftig in der Reaktion
der katholischen Presse. Es ist dieser letzte Aspekt, den ich im vorliegenden
Beitrag untersuchen möchte, in dem die Reaktionen der katholischen Presse
Frankreichs auf die Damaskus-Affäre analysiert werden sollen. Wie berich-
tete die Presse von der Affäre? Warum war die katholische Rhetorik derart
von Gewalt geprägt? Und was geschah, als ebendiese katholische Presse ihre
Aufmerksamkeit auf die Juden innerhalb Frankreichs umlenkte?
6 Zu Muhammad Ali siehe auch Matthew Smith Anderson, The Eastern Question
1774–1923. A Study in International Relations, London 1966; Afaf Lutfi al-Sayyid-
Marsot, Egypt in the Reign of Muhammad Ali, Cambridge 1984.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918