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272 Julie Kalman
Damaskus und das Blutgerücht
Pater Thomas (Tommaso) stammte aus Sardinien, hatte aber zum Zeitpunkt
seines Verschwindens schon mehr als drei Jahrzehnte lang in Damaskus
gelebt. Der nunmehr recht alte Mönch war über die Grenzen der verschie-
denen Gemeinschaften der Stadt hinweg besonders für sein Engagement für
die Impfung von Kindern bekannt. Wie das Osmanische Reich überhaupt
war Damaskus ein Flickenteppich verschiedener Völker und Religionen.
Die jüdische Gemeinschaft bestand teils aus Einwohnern, die schon zur Zeit
des Römischen Reiches im ganzen Nahen Osten gesiedelt und die sich unter
osmanischer Herrschaft arabisiert hatten. Im 16. Jahrhundert waren Juden
hinzugekommen, die der Verfolgung auf der iberischen Halbinsel entflo-
hen waren. Manche Nachfahren dieser Flüchtlinge waren sehr arm, andere
hingegen bildeten eine wohlhabende und gut vernetzte Handelselite, die in
der Dynamik der Affäre eine entscheidende Rolle spielen sollte7. Neben den
Juden lebten im Osmanischen Reich etliche christliche Gemeinschaften,
darunter griechische, nestorianische, armenische, assyrische und koptische
Christen. Die osmanischen Herrscher waren in der Regel pragmatisch ein-
gestellt und duldeten eher die Vielfalt, als dass sie Andersgläubige gewaltsam
zum Islam bekehren wollten. Mit dem wohl um das Jahr 717 geschlossenen
Pakt des Omar war die rechtliche Stellung der Dhimmis festgeschrieben wor-
den – ein Begriff, der zahlreiche nicht-muslimische Minderheiten umfasste.
Da es sich sowohl bei den Juden als auch bei den vielen christlichen Gemein-
den um »Schriftbesitzer« handelte – also um Monotheisten, denen in vor-
islamischer Zeit eine göttliche Offenbarung zuteil geworden war –, nahmen
sie eine Zwischenstellung zwischen Islam und Heidentum ein8.
Der Pakt des Omar wurde je nach Zeit und Ort mehr oder weniger streng
befolgt. Während der Pragmatismus der Osmanen ein Nebeneinander der
Religionen prinzipiell ermöglichte, bestand gegenseitiger Widerwille den-
noch fort und konnte sich gewaltsam bahnbrechen. Zudem hing das Schick-
sal einzelner und ganzer Gemeinschaften von der Willkür eines Herrschers
ab. Verfolgung wurde zwar manchmal von oben angeordnet, doch Gewalt
konnte ebenso auf Grundlage schon lange bestehender Spannungen zwi-
schen Gemeinschaften ausbrechen. Vielerorts im Osmanischen Reich – so
auch in Damaskus
– konkurrierte eine jüdische Kaufmannselite mit Christen
7 Zu den Juden in Damaskus des 19. Jahrhunderts siehe auch Thomas Philipp, The
Farhi Family and the Changing Position of the Jews in Syria 1750–1860, in: Middle
Eastern Studies 20 (1984), H.
4, S.
37–52; Haim Hirschberg, A History of the Jews in
North Africa, Bd.
2: From the Ottoman Conquests to the Present Time, Leiden 1981;
Avigdor Levy (Hg.), The Jews of the Ottoman Empire, Princeton 1994.
8 Vgl. Esther Benbassa / Aron Rodrigue, Sephardi Jewry. A History of the Judeo-
Spanish Community, 14th–20th Centuries, Berkeley 2000, S. 2f.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918