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273Französisch-katholische
Reaktionen auf die Damaskus-Affäre
insbesondere griechischer und armenischer Herkunft um Handelskonzessi-
onen und -privilegien. Solche Rivalitäten waren mitunter erbittert, und in
diesem Zusammenhang müssen auch die Menschenmengen verstanden wer-
den, die sich bald nach dem Verschwinden von Pater Thomas versammelten
und den Juden mit Zerstörung drohten9. Ebenfalls hieraus mag sich erklären,
warum die Ermittlungen so schnell voranschritten. Unter den ersten Festge-
nommenen befand sich ein jüdischer Barbier, dessen Geschäft sich unweit
der Stelle befand, an der Pater Thomas sein Plakat angebracht hatte. Der Bar-
bier gestand unter Folter und belastete mehrere andere Juden. Wer von den
Beschuldigten dazu imstande war, versteckte sich rechtzeitig oder brachte
sich in einem ausländischen Konsulat in Sicherheit. Die Unglücklichen, die
übriggeblieben waren, wurden festgenommen und verhört. Am vermeintli-
chen Tatort – den einer der Beschuldigten unter Folter als Wohnung eines
weiteren Verhafteten identifizierte – fanden die Ermittler Blutflecken und
Knochensplitter; letztere sollten sich später als von einem Tier stammend
herausstellen.
Warum verfolgte Ratti-Menton diesen Fall so hartnäckig, und warum ließ
er Gewalt und Folter geschehen? Benoît Ulysse-Laurent-François de Ratti-
Menton (1799–1864) war ein Berufsdiplomat, der vor seiner Versetzung nach
Damaskus etliche wenig herausragende Stellungen innegehabt hatte. Damas-
kus bedeutete für ihn einen klaren Karrieresprung. Ratti-Menton war der
erste Diplomat, der französische Interessen in dieser Stadt, die für sein Land
strategisch immer interessanter wurde, vertrat. Freilich waren französische
und andere europäische Konsuln schon seit Jahrhunderten im Osmanischen
Reich tätig gewesen, zumal es seit dem 16. Jahrhundert allerhand Kapitula-
tionen und Handelsverträge zu unterzeichnen gab. Sache der Konsuln war
ursprünglich Schutz und Förderung des Handels gewesen. Als jedoch im
Gefolge der Französischen Revolution das Nationalgefühl aufblühte, wurde
auch der Schutz eigener Staatsbürger zur konsularischen Angelegenheit10.
Frankreich hatte 1740 ein Abkommen mit den Osmanen unterzeichnet,
das den französischen Vertretern erlaubte, den römisch-katholischen Kle-
rus im Osmanischen Reich – darunter auch den Kapuzinerorden – unter
ihren Schutz zu stellen. Dies erklärt, warum Ratti-Menton die Ermittlungen
zum Verschwinden Pater Thomas’ leitete. Obschon Historiker wie Heinrich
9 Vgl. Frankel, Damascus Affair, S. 55.
10 Die Forschung zur Rolle der Konsuln im Osmanischen Reich wächst stetig; siehe
auch Silvia Marzagalli u.a. (Hg.), Les consuls en Méditerranée, agents d’ informa-
tion, XVIe–XXe siècle, Paris 2015; Silvia Marzagalli, Etudes consulaires, études
méditerranéennes. Eclairages croisés pour la compréhension du monde méditerra-
néen et de l’ institution consulaire à l’ époque modern, in: Cahiers de la Méditerra-
née. Les consuls dans tous leurs états: essais et bibliographie (avant 1914) 93 (2016),
S. 11–23.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918