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286 Julie Kalman
Der katholische Diskurs um die Damaskus-Affäre konnte sich auf kirch-
liche Lehren berufen, denen zufolge der Jude für alles stand, was jenseits des
festen Bodens des Christentums lag. Zugleich bezogen sie sich auf die Vor-
stellung des neuen und emanzipierten Juden, der angeblich alles verkörperte,
was an der nachrevolutionären kapitalistischen Gesellschaft falsch und böse
war. Es mochte sein, dass die Juden in Damaskus weiterhin ihren mittelal-
terlichen Bräuchen anhingen und gar einen Blutmord begingen. Doch die
emanzipierten Juden Frankreichs, die es sich in der modernen Welt so vor-
züglich eingerichtet hatten, konnten noch viel größeren Schaden anrichten.
Mit James de Rothschild bot sich der Inbegriff des mächtig-bösen Juden; er
stand sinnbildlich für die Übel der neuen Welt und bot damit den Katho-
liken, die der Macht der Kirche nachtrauerten, eine Zielscheibe. Im Roth-
schild-Juden gelangte der Jude als Metapher gleichsam zur Reife. Schamlos
bediene sich der Rothschild-Jude des Reichtums, dem er seine Macht ver-
danke. Schlimmer noch sei seine Neigung, hinter den Kulissen zu wirken
und sich zu verschwören. Fremd und unzuverlässig sei er ja schon immer
gewesen, nun sei er auch noch gefährlich und von bösartigem Hass erfüllt.
Die Damaskus-Affäre vereinte demnach alte und neue jüdische Stereotype
und Mythen. L’ Univers beschrieb dieses neue Übel in grellen Farben, indem
es die Rückkehr des Judentums als »Macht« diagnostizierte62: Stets hätten es
die Juden verstanden, sich »Intrigen und Gold« zunutze zu machen; ihr Auf-
stieg aber versinnbildliche das »raffsüchtige Jahrhundert«, in dem der Autor
und seine Leser ihr Dasein zu fristen hätten. Wirkten sie nun als »Talmudis-
ten in den Konsistorien Deutschlands und Englands« oder als »Rationalis-
ten an der Pariser Börse«, so blieben die Juden doch das gottesmörderische
Volk, den Christen allezeit fremd und feind. Die Emanzipation der Juden
und ihre Gegenwart in der Gesellschaft zu begreifen war im Frankreich des
19.
Jahrhunderts ein allmählicher, hingezogener Prozess, in dem die Damas-
kus-Affäre eine zentrale Rolle spielte. Hier nämlich gaben Anschuldigungen
gegen die Juden im abgelegenen und primitiven Damaskus einen vermeint-
lichen Freibrief, zuhause die Juden umso freier und heftiger anzugreifen. Es
zeigt sich, dass der gewaltsame Antisemitismus der katholischen Presse, wie
er sich um die Wende zum 20. Jahrhundert in der Dreyfus-Affäre äußerte –
von der physischen Gewalt gegen Juden gar nicht zu sprechen – zur Zeit der
Vorgänge in Damaskus eingeübt und verfeinert worden war.
Im Verlauf des 19.
Jahrhunderts versuchten konservative Katholiken stets,
den Platz der Juden in der Gesellschaft einzurichten, anzupassen und neu zu
verhandeln. Sie taten dies, um sich selbst neue Narrative zu schaffen, in denen
sie eine Zentralposition einnahmen in einer Welt, in welcher die Macht des
konservativen Katholizismus stetig schwand. Wenn auch diese Geschichte
62 L’ Univers, 8. Oktober 1840.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918