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295Gewalt,
Religion und Gegenrevolution in Spanien
Begriffen »unproduktiv« waren. Doch die Gewalt richtete sich gegen Kir-
chengüter, nicht den ausbeuterischen Kapitalismus, und Brandstiftung war
abermals das antiklerikale Mittel der Wahl.
Gewalt gegen Sachen und Gebäude war für das spanische sexenio so cha-
rakteristisch wie für die Pariser Kommune, die Revolutionen in Portugal,
Mexiko und Russland, sowie für den Spanischen Bürgerkrieg von 1936–
193921. Die »religiöse Gewalt« dauerte fort, und die geistigen und kulturellen
Ursachen ihrer Explosion während der Tragischen Woche und dem Bürger-
krieg bedürfen der Erklärung. Wie sich in der Geschichtsschreibung ablesen
lässt, gehört Spanien zu den Ländern, die am häufigsten in Begriffen eines
Konflikts zwischen säkularen, liberalen Kräften einerseits und Katholischen
andererseits gedeutet werden. Tatsächlich aber weist die Erfahrung religiöser
Gewalt ein symbiotisches Moment auf, konnte doch keine Seite ihre eigene
Position und die damit einhergehenden moralischen Gewissheiten ohne
Rekurs auf die Gegenseite aufrechterhalten. Die so prägnante wie verein-
fachte Darstellung des sexenio von Menéndez Pelayo gibt ein klares Beispiel
für eine Darstellung vergangener Ereignisse, durch die bestimmte Gedanken
und Vorstellungen weitergetragen wurden. Dieses »Vergangenheitsmuster«
bestimmte nicht nur die revolutionäre Praxis, sondern auch die gegenrevo-
lutionäre Antwort.
Gewalt bediente sich stark vergangener Muster, und zwar sowohl der his-
torischen Vergangenheit von Revolution und Krieg als auch der transzen-
dentalen Vergangenheit, auf die sich die Schlüsselgedanken der integralis-
tisch-katholischen Theologie beriefen. Solche Gewalt kannte keinen linearen
Verlauf, denn der religiöse Glaube musste sich an Gedanken der Ewigkeit
und einer die menschliche Zeit übersteigenden Kosmologie orientieren. Dies
gehörte zum Kern der katholischen Gegenrevolution. Zweifellos hatte der
revolutionäre Bildersturm nach 1789 das Verhalten sowohl der Antikleri-
kalen als auch der Katholiken mitbestimmt, doch war die Umbildung des
Katholizismus im 19. Jahrhundert mit seinem verstärkten Akzent auf Sünde
und Opfer nicht minder bedeutend. Diese Spielart des integralistischen
Katholizismus war zwar nie politisch vorherrschend, zeitigte jedoch eine
Wandlung katholischer Frömmigkeit, aus der sich eine Welle der Devotion
speiste, wie sie die katholische Kirche noch nie gesehen hatte, und die in der
Sprache und Theologie zutiefst von Begriffen wie Opfer, Gewalt und Ver-
stümmelung geprägt war.
21 Vgl. Julio de la Cueva, Violent Culture Wars. Religion and Revolution in Mexico,
Russia and Spain in the Interwar Period, in: Journal of Contemporary History 53
(2018), H. 3, S. 503–523.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918