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298 Mary Vincent
Reversibilität«: Wie in der Passion Christi könne ein Leben anstelle eines
anderen dargebracht und Schuld durch Unschuld gesühnt werden. In dieser
»Heilsökonomie« konnten Schulden also in Blut, dem »Tauschprinzip«, abge-
golten werden29. Solche Vorstellungen prägten die theologische Ideenwelt
der Zeit aus Tiefste. Die Büßer-Kulte, die im 19.
Jahrhundert das Gesicht des
europäischen Katholizismus verwandelten, griffen die Gewalt auf, die in der
von de Maistre gezeichneten Figur des Henkers veräußerlicht worden war,
und sublimierten sie in Vorstellungen wie dem »stellvertretenden Leiden«
oder der »mystischen Substitution«, wonach um der Errettung eines anderen
Willen ein freiwilliges Opfer dargebracht werden konnte30.
Die bekannteste und bedeutendste Form dieser neuen Frömmigkeit war
die Herz-Jesu-Verehrung, die das wichtigste Medium des integralistischen
Katholizismus bildete. Der Kultus übertrug integralistische Vorstellungen
und Werte in verbreitete Andachtsformen und erreichte so eine Breitenwir-
kung, die von der gegenwärtigen Forschung eher unterschätzt wird. Der Inte-
gralismus ist nicht als rein politisches Phänomen zu verstehen, als unbeug-
same Strömung des Carlismus, die auf die »Partido Integrista« beschränkt
blieb. Diese Partei war 1885 von Ramón Nocedal (1842–1907) gegründet
worden. Nocedal war zudem Herausgeber der Tageszeitung El Siglo Futuro,
die sein Vater Cándido (1821–1885) gegründet hatte. Mit seiner unversöhn-
lichen Ablehnung jeglicher Form des Liberalismus, des kulturellen Pluralis-
mus oder der Religionsfreiheit überdauerte der politische Integralismus –
wenn auch im Falle der Partei nur dem Namen nach
– bis in die 1930er Jahre.
Er blieb jedoch eine Minderheitenströmung innerhalb einer carlistischen
Bewegung, der dynastische Spaltungen arg zugesetzt hatten. Der politische
Integralismus blieb letztlich Sache einer unverdrossenen Minderheit adeli-
ger Männer31.
Der Einfluss des Integralismus wird für gewöhnlich am Beispiel der
Presse geschildert, insbesondere der Zeitung El Siglo Futoro, die bis zum Bür-
gerkrieg erschien, ohne ihre redaktionelle Ausrichtung merklich zu ändern.
Das Denken Donoso Cortés’ hatte Vater und Sohn Nocedal zutiefst geprägt.
Demnach konnte nur die religiöse Autorität des katholischen Absolutismus,
bis hin zur Diktatur, die verkommene, viehische Natur des Menschen zäh-
men. Nicht zufällig nahm El Siglo Futoro 1912 mit dem Herzen Jesu über der
Legende »Ich werde in Spanien herrschen« erstmals ein grafisches Element
29 Vgl. Owen Bradley, A Modern Maistre. The Social and Political Thought of Joseph
de Maistre, Lincoln NE 1999, S. 36–50, hier S. 42.
30 Vgl. Richard Burton, Holy Tears, Holy Blood. Women, Catholicism, and the Culture
of Suffering in France, 1840–1970, Ithaca 2004, S.
106–147, 212–218; siehe auch ders.,
Blood in the City. Violence and Revelation in Paris 1789–1945, Ithaca 2001.
31 Vgl. Jordi Canal, Las »muertes« y las »resurrecciones« del carlismo. Reflexiones
sobre la escisión integrista de 1888, in: Ayer 38 (2000), S. 115–135.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918