Seite - 314 - in Glaubenskämpfe - Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
Bild der Seite - 314 -
Text der Seite - 314 -
314 Michael Snape
neuen Kreuzzuges zu befinden. Indessen waren die katholischen Feldgeistli-
chen allem Anschein nach bemüht, die Prinzipien des gerechten Krieges und
der damit verbundenen Mäßigung aufrechtzuerhalten.
Ironischerweise waren Gewalt und Leiden des Krieges eher dazu angetan,
die Frömmigkeit der Soldaten auf nichtmilitärische Fürsprecher zu lenken
statt auf die naheliegenden Kriegerheiligen. Zudem deutete sich eine größere,
auffälligere geistliche Dividende der Kriegsgräuel an: Wenn der Glaube der
Soldaten und die katholische Theologie selbst vom Schrecken der indus-
trialisierten Kriegsführung im Ganzen unberührt blieben, so bewies dies –
selbst in den Augen vieler Protestanten – wie strapazierfähig und tröstlich
die Sakramente des Katholizismus und die vielfältigen Erscheinungsformen
der »materiellen Religion« waren. Infolgedessen, und im Angesicht ernst-
hafter innerer Spaltungen und äußerer Anfechtungen, leitete sich aus die-
ser Erkenntnis ein Anspruch auf einen viel bedeutenderen moralischen und
spirituellen Sieg seitens der britischen Katholiken ab. Durch die beispiellose
Gewalt und das unablässige Blutvergießen des modernen Krieges scheinen
nämlich Macht und Anziehungskraft des Glaubens eine dramatische Bestä-
tigung erfahren zu haben4.
Katholiken, Wehrpflicht und das Spannungsfeld der Kriegszeit
Als das Vereinigte Königreich am 4. August 1914 dem Deutschen Reich
den Krieg erklärte, waren beinahe 75 Prozent der 4,5 Millionen Bewohner
Irlands katholisch, aber gerade einmal 6 Prozent der 42 Millionen Bewohner
des britischen Festlands5. Diese Minderheit war hauptsächlich in den Indus-
trierevieren Westschottlands, Nordenglands, Londons und Mittelenglands
konzentriert, die seit geraumer Zeit irische Einwanderer anzogen. Wenn
also die Anzahl der Katholiken insgesamt bescheiden war, so blieb auch ihre
politische Integration unvollständig. Im August 1914 verfügte Großbritan-
nien über keinen diplomatischen Gesandten beim Vatikan (was sich bald
ändern sollte), und in der liberalen Regierung, die das Land in den Krieg
führte, saß kein Katholik6. Anders jedoch als andere religiöse Minderheiten
4 Im Hinblick auf den Katholizismus auf dem Kontinent entsprechen diese Befunde
denen von Annette Becker und Patrick Houlihan; siehe auch Annette Becker, War
and Faith. The Religious Imagination in France, 1914–1930, Oxford 1998; Patrick
Houlihan, Catholicism and the Great War. Religion and Everyday Life in Germany
and Austria-Hungary, 1914–1922, Cambridge 2015.
5 Anonymus, Irish Catholic Directory and Almanac, Dublin 1920, S. xxviii; Anony-
mus, The Catholic Directory, London 1914, S. 625.
6 Vgl. Keith Robbins, Britain, British Christians, the Holy See, and the First World
War, in: Lorenzo Botrugno (Hg.), »Inutile Strage«. I Cattolici e la Santa Sede nella
Prima Guerra Mondiale, Vatikanstadt 2016, S. 143–157, hier S. 145–147.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918