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340 Eveline G. Bouwers
Ein weiteres Merkmal für das Verhältnis von Glaube und Gewalt im
19. Jahrhundert ist der synkretistische Charakter vieler Gewaltakte und
-semantiken. Einerseits reproduzierten sie frühneuzeitliche Praktiken und
Argumente, wie z.B. die Einforderung, dass jeder Mensch seine Verantwor-
tung im Gemeinwohl übernehmen solle, die Vorhersage göttlicher Rache oder
die Einbindung von Begriffen wie Inquisition und Reconquista. Anderer-
seits nahmen sie Elemente der modernen »contentious politics« vorweg, wie
den Verweis auf Religionsfreiheit und Demokratie sowie den Einfluss der
Presse5. In diesem Sinne gleicht religionsbezogene Gewalt im 19. Jahrhun-
dert einem aus seiner unmittelbaren Entstehungszeit losgelösten Palimpsest.
Ein letzter Aspekt, der als Ergebnis des vorliegenden Bandes genannt werden
kann, ist die eher überschaubare Rolle des Klerus bei der Steuerung von reli-
gionsbezogenen Gewaltkulturen. Abgesehen von Situationen, wie im mexi-
kanischen Michoacán und im slowenischen Ricmanje, wo sich die Gläubigen
den Vorgaben der kirchlichen Hierarchie aktiv widersetzten, fällt auf, dass
Laien häufig eigenständig agierten, und Glaube und Gewalt auf ihre eigene
Art und Weise verknüpften. So erhielt die von britischen Bischöfen propa-
gierte Semantik vom »Gerechten Krieg« kaum Zuspruch unter den Soldaten,
die an der Westfront stationiert waren. Sogar die Missionarinnen auf Tumleo
stellten sich mit ihrer Kritik an Schwester Valeria indirekt gegen ihren religiö-
sen Vorgesetzten, der Gewalt unter Verweis auf die Bibel als eine akzeptable
Erziehungsmethode gebilligt hatte.
Die Verdichtung religionsbezogener Gewaltkulturen oder gewaltbefrach-
teter Konflikte in dem bzw. um den religiösen Raum in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts ist das wohl deutlichste Zeichen, dass die These einer
»disparition de la violence religieuse« für die Zeit nach der Französischen
Revolution zu kurz greift – ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Histo-
riker bereits für die Periode ab dem 17. Jahrhundert ein merkbares Abflauen
religionsbezogener Gewaltkulturen im Alltag und die Regulierung von Dif-
ferenz auf staatspolitischer Ebene diagnostiziert haben6. Im Gegensatz zum
vermeintlichen Verschwinden »religiöser Gewalt« im 19.
Jahrhundert spricht
deshalb Caroline Ford für Frankreich von einer Transformation, die sie an
Grund für die vergleichsweise gewaltsame Natur von Konflikten um den religiösen
Raum im 19. und 20.
Jahrhundert ist, wäre sicherlich ein lohnenswertes Forschungs-
thema.
5 Siehe auch Ilaria Favretto, Introduction: Looking Backward to Move Forward –
Why Appreciating Tradition Can Improve Our Understanding of Modern Protest,
in: Dies. / Xabier Itcaina (Hg.), Protest, Popular Culture and Tradition in Modern
and Contemporary Europe, Basingstoke 2017, S. 1–20.
6 Für die Mechanismen zur friedlichen Regelung religiös-konfessioneller Differenz
(vgl. Religionsfrieden) und die folgende Abnahme »religiöser Gewalt«, siehe neuer-
lich Wayne Te Brake, Religious War and Religious Peace in Early Modern Europe,
Cambridge 2017.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918