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Theoretische Verortung
Elisabeth Greif • Verkehrte Leidenschaft ¶
kennzeichnet.68 Repräsentativ für essentialistische Theorien, die vom
Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 70 er Jahre des 20. Jahrhunderts
dominierten, sind vor allem die psychiatrisch-medizinische Sexualwis-
senschaft und die orthodoxe Psychiatrie 69 – aber auch Vorreiter und
Vorreiterinnen im Kampf gegen die Strafbarkeit gleichgeschlechtlicher
Unzucht bedienten sich häufig eines » strategischen Essentialismus « 70.
Während Vertreter und Vertreterinnen des Essentialismus Homo-
sexualität als natürliche, angeborene oder jedenfalls früh erworbene
Eigenschaft einstufen, lehnen Konstruktivistinnen und Konstruktivis-
ten eine aus dem Selbstverständnis der Gegenwart abgeleitete Defini-
tion gleichgeschlechtlichen Begehrens ab. Sie betonen den diskonti-
nuierlichen und kulturell gebundenen Charakter der Sexualität.71 Die
» Geschichte der Homosexualität « muss damit vielmehr als eine » Ge-
schichte der Homosexualitäten «, als eine Abfolge von Konzeptualisie-
rungen und Konstruktionen ohne erkennbare diachrone Strukturen
und Kontinuitäten verstanden werden.72 Homosexualität im heutigen
Sinne stellt keine ĂĽberzeitliche Erscheinung dar. Stattdessen muss un-
terschieden werden zwischen gleichgeschlechtlichem ( sexuellen ) Ver-
halten, das es überall gab und gibt und einer » homosexuellen Identität «,
die sich jeweils unter bestimmten historischen Bedingungen konsti-
tuiert.73
Ăśber die Jahrhunderte hinweg wuchs der Diskurs ĂĽber Sexuali-
tät stetig an, wozu die Entstehung der Sexualwissenschaft als eigener
68 Vgl Hergemöller Bernd-Ulrich, Einführung 44.
69 Vgl Brinkschröder Michael, Sodom als Symptom. Gleichgeschlechtliche Sexualität
im christlichen Imaginären – eine religionsgeschichtliche Anamnese ( 2006 ) 60 f;
Schwarz Gudrun, » Mannweiber « in Männertheorien, in Hausen Karin ( hg ), Frauen
suchen ihre Geschichte ( 1983 ) 62 ( 67 ff ). Ein Ăśberblick ĂĽber Vertreter und Vertre-
terinnen essentialistischer Ansätze aus den Naturwissenschaften findet sich bei
Bock von Wülfingen Bettina, Diverse Biologien – schwindende Geschlechter ? in Greif
Elisabeth ( hg ), Körper que ( e ) r denken. Tagungsband des 11. AbsolventInnentages
der Johannes Kepler Universität Linz ( 2006 ) 59 ( 71 ff ).
70 Brinkschröder Michael, Sodom 61. Siehe dazu Kapitel II und III.
71 Vgl MĂĽller Klaus, Aber in meinem Herzen sprach eine Stimme so laut. Homosexu-
elle Autobiographien und medizinische Pathographien im neunzehnten Jahrhun-
dert ( 1991 ) 47.
72 Vgl Hergemöller Bernd-Ulrich, Einführung 47. Auch Heterosexualität wird als Kon-
struktion verstanden, die wechselnden kulturellen Deutungsmustern unterliegt,
gleichzeitig aber den Anspruch erhebt, ein » natürlicher, reiner und eindeutiger
Zustand zu sein, der keiner Erklärung bedarf «, vgl Jagose Annemarie, Queer Theory.
Eine EinfĂĽhrung ( 2001 ) 30.
73 Vgl Jagose Annemarie, Queer Theory 29.
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Buch Verkehrte Leidenschaft - Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin"
Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Titel
- Verkehrte Leidenschaft
- Untertitel
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Autor
- Elisabeth Greif
- Verlag
- Jan Sramek Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Abmessungen
- 15.0 x 23.0 cm
- Seiten
- 478
- Kategorie
- Recht und Politik