Seite - 66 - in Verkehrte Leidenschaft - Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Bild der Seite - 66 -
Text der Seite - 66 -
66 II. Vom Trieb zur Lust
Elisabeth Greif • Verkehrte
Leidenschaft¶
lich möglich. Gleichgeschlechtlich begehrende Männer müssten daher
über eine weibliche Seele verfügen: 259
» Seinem ganzen geistigen Organismus nach, nicht blos [ sic ! ] was
geschlechtliche Liebesempfindungen betrifft, seiner ganzen geis-
tigen Naturanlage nach, seiner ganzen Gemüthsart nach: ist der
Urning nicht Mann, sondern ein Wesen weiblicher Art. « 260
Damit diente Weiblichkeit » zur Rechtfertigung des gleichgeschlecht-
lichen Sexualbegehrens [ .. ] als willkommener Argumentationsto-
pos, der unter Zuhilfenahme zeitgenössischer Vorstellungen der Ge-
schlechtscharaktere gleichgeschlechtliche Sexualität zu legitimieren
versuchte. « 261 Die Thesen Ulrichs blieben der Dominanz einer spezifisch
asymmetrisch-dichotomen und heterosexuell normierten Geschlech-
terordnung verhaftet. Sie lieferten der späteren Sexualwissenschaft ein
Erklärungsmuster des gleichgeschlechtlichen Begehrens, das bestim-
mend werden sollte und sich auf vielfältige Weise reproduzierte: An die
Stelle von Caspers » geistiger Zwitterbildung « setzte es eine gänzliche
Verkehrung der Geschlechterrollen.
Hatte es sich bei der Sodomie und bei der durch die Gerichtsme-
dizin beobachteten Päderastie um eine weitgehend juristische Kate-
gorie, um einen Gesetzesverstoß, gehandelt, stellte die » konträre Se-
xualempfindung « oder » Homosexualität « 262 einen medizinischen und
psychologischen Begriff dar. Ohne sich ganz von der Frage nach juris-
tisch erlaubten und juristisch unerlaubten Handlungen lösen zu kön-
nen, zog die Sexualwissenschaft die Grenze vornehmlich zwischen » ei-
ner medizinisch gesetzten Norm und der zu ihrer Setzung notwendigen
Abweichung. « 263 Da die Sexualforschung im deutschsprachigen Raum
259 Vgl Mehlmann Sabine, Sexualität und Geschlechtlichkeit. Vom Geschlechtscha-
rakter zur Geschlechtsidentität, in Ferdinand Ursula / Pretzel Andreas / Seeck Andreas
( hg ), Verqueere Wissenschaft ? Zum Verhältnis von Sexualwissenschaft und Sexual-
reformbewegung in Geschichte und Gegenwart ( 2005 ) 35 ( 40 ).
260 Numantius Numa, » Vindex. « 5 ( Hervorhebung im Original ).
261 Lücke Martin, Männlichkeit 66.
262 Der Begriff » Homosexualität «, aus dem Griechischen und dem Lateinischen zu-
sammengesetzt, geht auf den deutsch-österreichisch-ungarischen Übersetzer,
Schriftsteller und Kaufmann Karl Maria Benkert zurück, vgl auch Sigusch Volkmar,
Geschichte 146. Zur begrifflichen Abgrenzung vgl auch Chauncey George, From Se-
xual Inversion To Homosexuality: Medicine And The Changing Conceptualization
Of Female Deviance, Salmagundi 1982 / 1983, 114 ( 124 ff ).
263 Hegener Wolfgang, Von der schwulen Identität, die nicht aufhört aufzuhören, in
Ferdinand Ursula / Pretzel Andreas / Seeck Andreas ( hg ), Wissenschaft 51 ( 53 ).
zurück zum
Buch Verkehrte Leidenschaft - Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin"
Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Titel
- Verkehrte Leidenschaft
- Untertitel
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Autor
- Elisabeth Greif
- Verlag
- Jan Sramek Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Abmessungen
- 15.0 x 23.0 cm
- Seiten
- 478
- Kategorie
- Recht und Politik