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98 III. Das Recht zu sündigen
Elisabeth Greif • Verkehrte
Leidenschaft¶
Auch in den strafverfahrensrechtlichen Vorschriften fand die An-
nahme Niederschlag, dass der Geisteszustand der Beschuldigten im
Zweifel durch Ärzte zu beurteilen sei. Sowohl die Kriminalordnung 1788
als auch das Strafgesetz 1803 schrieben vor, dass über Angeklagte ein
Gutachten von » zwey Kunstverständigen, nämlich Aerzten oder Wund-
ärzten « zu erstellen sei, wenn ihre Antworten während des Verhörs » mit
einer auffallenden Sinnenverwirrung « gegeben wurden. Die medizini-
schen Sachverständigen sollten beurteilen, ob die Sinnesverwirrung
tatsächlich bestand oder lediglich vorgetäuscht war, in welchem Fall
den Angeklagten Ungehorsamsstrafen drohten.388 Spezielle Vorschrif-
ten für die Erforschung des Geisteszustandes der Beschuldigten zum
Zeitpunkt der Tat enthielt das Strafprozessrecht zunächst nicht. Die-
sen Mangel bedauerte Hye. Er betonte, dass in den Fällen des § 2 lit a
und b StG 1852 durch Begutachtung der Sachverständigen festzustel-
len sei, » [ w ]elche Seelen-Zustände überhaupt dahin gehören, und ob
in concreto der Seelenzustand eines bestimmten Thäters darunter zu
subsumieren sei «.389 Der Oberlandesgerichtsrat und Referent im Jus-
tizministerium Joseph von Würth vertrat für die von ihm nach franzö-
sischem Vorbild geschaffene Strafprozeßordnung 1850 die Auffassung,
dass in Fällen fraglicher Zurechnungsfähigkeit jedenfalls Gerichtsärzte
als Sachverständige heranzuziehen seien. Hinsichtlich des Verfahrens
empfahl er, sich nach dem hannoverschen Gesetz über das Strafver-
fahren vom 8. September 1840 zu orientieren, das die Untersuchung
durch zwei Ärzte vorsah.390 Das von Würth favorisierte Verfahren der Un-
tersuchung des Geistes- und Gemütszustandes der Beschuldigten fand
schließlich als § 95 Eingang in die Strafprozeßordnung 1853:
» Entstehen Zweifel darüber, ob der Beschuldigte den Gebrauch
seiner Vernunft besitze, oder ob er an einer Krankheit des Geis-
tes oder Gemüthes leide, wodurch die Zurechnungsfähigkeit
desselben aufgehoben oder vermindert seyn könnte, so ist die
388 § 109 der Kriminalordnung 1788 sowie § 363 StG 1803. Gelangten die Ärzte dagegen
zu dem Schluss, dass die Sinnesverwirrung tatsächlich bestand, war der Fall dem
Obergericht anzuzeigen und dessen Belehrung abzuwarten. Mit ah Entschließung
vom 22. Mai 1848 wurden die Disziplinarstrafen der §§ 363–365 StG 1803, die letzte
Reste der bereits abgeschafften Folter darstellten, beseitigt; vgl Würth Joseph von,
Die österreichische Strafprocessordnung vom 17. Jänner 1850, erläutert und in Ver-
gleichung mit den Gesetzgebungen des Auslandes ( 1851 ) 311.
389 Hye Anton, Strafgesetz 167 ( Hervorhebungen im Original ) sowie die Fn; 169 insb Fn.
390 Vgl Würth Joseph von, Strafprocessordnung 234 f.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Titel
- Verkehrte Leidenschaft
- Untertitel
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Autor
- Elisabeth Greif
- Verlag
- Jan Sramek Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Abmessungen
- 15.0 x 23.0 cm
- Seiten
- 478
- Kategorie
- Recht und Politik