Seite - 111 - in Verkehrte Leidenschaft - Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
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Zur Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens
Elisabeth Greif • Verkehrte Leidenschaft ¶
Formel ‹, deren Lösung bestenfalls nur mit Rücksicht auf ein bestimm-
tes Strafgesetz möglich sei. « 444 Auf beiden Seiten kam es somit zu ent-
täuschten Erwartungen. Während Berze beklagte, dass » ein für den
Mediziner verständliches › psychologisch-juristisches Kriterium ‹ der
Zurechnungsfähigkeit « 445 fehle, bemängelte Hoegel von juristischer
Seite, dass die Medizin mit Blick auf die konträre Sexualempfindung
» eine klare, einfache Beantwortung der Frage der Zurechnungsfähig-
keit Verkehrter « 446 schuldig blieb. Ähnliche Auffassungsunterschiede
zwischen den Disziplinen bestanden hinsichtlich des » unwiderstehli-
chen Zwangs «. Fritsch fasste sie dahingehend zusammen, dass bei » Un-
vermögen, den sexuellen Verkehr innerhalb normaler Grenzen zu pfle-
gen « 447 vom medizinischen Standpunkt aus eine gewisse Zwangslage
gegeben sei, deren Geltendmachung allerdings insofern auf Schwierig-
keiten stoße, als unwiderstehlicher Zwang in juristischem Sinn nur bei
» Einwirkung äußerer Momente auf geistig gesunde Personen « 448 an-
genommen würde. Einen die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden
Geisteszustand nahm Krafft-Ebing bei » geborenen Urningen « nur selten
an, häufiger seien allerdings » elementare psychische Störungen, wel-
che die Zurechnungsfähigkeit an und für sich nicht aufheben « 449 festzu-
stellen. Damit war aber seiner Ansicht nach die forensische Frage nach
der Verantwortlichkeit Konträrsexualer noch nicht beantwortet. Ihre
Schuld könne nicht in ihrem gleichgeschlechtlichen Empfinden liegen,
welches ihnen angeboren und daher natürlich 450 sei:
444 Türkel Siegfried, Probleme 6.
445 Berze Josef, Zur Frage der Subsumtion unter § 2 des Strafgesetzes, Wiener Medizi-
nische Wochenschrift 1906, 662 ( 725 ).
446 Hoegel Hugo, Der Gerichtssaal 1897, 115.
447 Fritsch Johann, Allgemeine Österreichische Gerichts-Zeitung 1911, 220.
448 Fritsch Johann, Allgemeine Österreichische Gerichts-Zeitung 1911, 220. Gleicher An-
sicht schon Moll Albert, Sexualempfindung 3 475. In jedem Fall strafausschließend
wertete offenbar nur Kratter die angeborene konträre Sexualempfindung. Sie stelle
» unwiderstehlichen Zwang « dar, der » Urning « sei » des Gebrauches der Vernunft
beraubt « und könne daher nach dem geltenden Strafgesetz nicht strafbar sein, vgl
Kratter Julius, Lehrbuch 187.
449 Krafft-Ebing Richard von, Psychopathia 12 406.
450 Mit dem Argument, dass für » geborene Urninge « die gleichgeschlechtliche Un-
zucht die natürliche Art der Geschlechtsbefriedigung darstelle, trat Ulrichs de lege
lata für Straffreiheit ein: Das Erfordernis der Widernatürlichkeit sei in diesen Fäl-
len nicht erfüllt, vgl Numantius Numa, » Vindex. « 17. Zustimmend Praetorius Numa,
Zur Frage der Zurechnungsfähigkeit der Homosexuellen, MSchrKrim 1906 / 07, 557
( 561 ); Bloch Iwan, Das Sexualleben unserer Zeit in seiner Beziehung zur modernen
Kultur ( 1908 ) 578.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Titel
- Verkehrte Leidenschaft
- Untertitel
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Autor
- Elisabeth Greif
- Verlag
- Jan Sramek Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Abmessungen
- 15.0 x 23.0 cm
- Seiten
- 478
- Kategorie
- Recht und Politik