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Zur gerichtsgutachterlichen Praxis
Elisabeth Greif • Verkehrte Leidenschaft ¶
rigen Hilfsarbeiters Paul H., dem versuchte Unzucht wider die Natur
vorgeworfen wurde, legte das Gutachten eine bestimmte richterliche
Entscheidung nahe: » Wenn auch keine Geistesstörung im Sinne des
§ 2 vorliegt, die als Strafabschliessungsgrund [ sic ! ] in Betracht käme,
so ist doch im weitesten Ausmasse zu berücksichtigen, dass derartige
Konträrsexuelle ihren Trieben sehr schwer Widerstand leisten können
[ … ]. « 464 Unter Berücksichtigung des Gutachtens der Ärzte, » welche ihn
als einen Urning, das heißt typisch u. krankhaft zu perversen Handl.
veranlagten Menschen bezeichnen mit ausgesprochen konträrer Ge-
schlechtsempfindung «,465 verurteilte der Schöffensenat Paul H. zu zwei
Monaten schwerem Kerker, verschärft durch zwei harte Lager monat-
lich. Bei der Strafbemessung wurde ein Überwiegen der Milderungs-
gründe angenommen.
Von 1918 bis zum März 1938 sah das Landesgericht Linz nur in einem
einzigen Fall, in dem ein psychiatrisches Gutachten über das Vorliegen
einer » konträren Sexualempfindung « beigebracht wurde, einen Schuld-
ausschließungs- oder Entschuldigungsgrund verwirklicht. Der 42-jäh-
rige Zählerwärter Franz K., der mit seiner an die Polizeidirektion Wien
gerichteten, als » Tragödie eines Homosexuellen « übertitelten Schrift
die Strafverfolgung gegen sich sowie zahlreiche andere Personen ausge-
löst hatte, wurde von den Gerichtssachverständigen als » strafrechtlich
[ . ] nicht verantwortungsfähig « 466 bezeichnet. Die Staatsanwaltschaft
sprach sich für eine Niederschlagung des gesamten Verfahrens aus, da
» K. wegen Geisteskrankheit nicht verfolgbar ist « 467. In zwei weiteren
Fällen kamen die Sachverständigen zu dem Schluss, dass die Begutach-
teten » als so ziemlich der Vernunft beraubt anzusehen « 468 und daher
» vom ärztlichen Standpunkte strafrechtlich als nicht verantwortlich zu
bezeichnen « 469 seien: Einmal hinsichtlich des zwanzigjährigen Franz
W., mit dem der Hilfsarbeiter Engelbert E. in den Traunauen Unzucht
getrieben hatte; ein weiteres Mal bezüglich des 21-jährigen Franz A.,
464 OÖLA, BG / LG Linz Sch 310, Vr VI E 472 / 25, Psychiatrischer Befund mit Gutachten
vom 17. Juli 1925.
465 OÖLA, BG / LG Linz Sch 310, Vr VI E 472 / 25, Psychiatrischer Befund mit Gutachten
vom 17. Juli 1925.
466 OÖLA, BG / LG Linz Sch 295, Vr IX 1098 / 22, Psychiatrischer Befund mit Gutachten
vom 24. Juli 1922.
467 OÖLA, BG / LG Linz Sch 295, Vr IX 1098 / 22, Antrag vom 2. September 1922.
468 OÖLA, BG / LG Linz Sch 469, 8d Vr 60 / 36, Psychiatrischer Befund und Gutachten
vom 3. Februar 1936.
469 OÖLA, BG / LG Linz Sch 355, 12 Vr 142 / 30, Befund und Gutachten ( undatiert ).
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Titel
- Verkehrte Leidenschaft
- Untertitel
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Autor
- Elisabeth Greif
- Verlag
- Jan Sramek Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Abmessungen
- 15.0 x 23.0 cm
- Seiten
- 478
- Kategorie
- Recht und Politik