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124 IV. Wunsch nach einem neuen Strafrecht
Elisabeth Greif • Verkehrte
Leidenschaft¶
Im Deutschen Reich war die Strafbarkeit der gleichgeschlechtli-
chen Unzucht unter Männern nach § 175 Reichsstrafgesetzbuch 1871
( dRStGB ) 485 an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Gegenstand
hitziger Debatten, die weit über den juristischen Diskurs hinaus reich-
ten. Eine entsprechend breite Auseinandersetzung lässt sich hinsicht-
lich des österreichischen § 129 I b StG 1852 nicht nachweisen. Diese
Divergenzen sind auf unterschiedliche Rahmenbedingungen in den
beiden Ländern zurückführen: Den Anstoß für Diskussionen über eine
Entkriminalisierung gleichgeschlechtlicher Sexualität gab im Deut-
schen Reich vielfach das Auftreten Betroffener,486 wie etwa in Gestalt
des deutschen Juristen Ulrichs oder des Berliner Arztes und Sexualfor-
schers Magnus Hirschfeld. Hirschfeld hatte in Berlin das Wissenschaft-
lich-humanitäre Komitee gegründet, dessen Zweck in der Bekämpfung
der Strafbarkeit der gleichgeschlechtlichen Unzucht wider die Natur
in § 175 dRStGB bestand. 1919 folgte die Gründung des weltweit ers-
ten Instituts für Sexualwissenschaften.487 Der österreichische Arzt und
Psychoanalytiker Wilhelm Stekel gründete 1906 zwar eine Zweigstelle
des Wissenschaftlich-humanitären Komitees in Wien,488 wandte sich
485 Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich ( RStGB ), dRGBl 1871 S 127. Das dRStGB war
am 15. Mai 1871 erlassen worden und trat mit 1. Jänner 1872 in Kraft.
486 Eine der wenigen Ausnahmen stellt die 1908 erschienene Schrift des in Graz we-
gen » Herbeiführung einer Gelegenheit zum Verbrechen der Unzucht wider die
Natur « verurteilten Theaterchorsängers Cornelius Zimka dar. Zimka veröffentlichte
seine Streitschrift für die Rechte Homosexueller unter dem Namen » Julius Zin-
ner «, heute existieren nur mehr zwei Exemplare dieses Werkes, vgl Zinner Julius,
Entspricht die Bestrafung der Homosexuellen unserem Rechtsempfinden ? Öster-
reichs erste Streitschrift eines Betroffenen. Kommentierte Neuauflage. Mit einem
Beitrag zur Homosexualität um 1900 von Hans-Peter Weingand ( 2008 ). Einige Pe-
titionen gegen § 129 I b StG 1852 finden sich erwähnt in Brunner Andreas / Rieder
Ines / Schefzig Nadja / Sulzenbacher Hannes / Wahl Niko, geheimsache:leben. schwule
und lesben im wien des 20. Jahrhunderts ( 2005 ) 31.
487 Zu Hirschfelds Wirken vgl auch Lindemann Gesa, Magnus Hirschfeld, in Lautmann
Rüdiger ( hg ), Homosexualität 91 ff.
488 Um die Jahrhundertwende war bereits der Ingenieur Joseph Nicoladoni österrei-
chischer Kontaktmann des Wissenschaftlich-humanitären Komitees gewesen,
vgl Springer Petra M., Bewegungsgeschichten ( 2006 ), < http: / /wolfsmutter.com /
artikel391 > [ 10. Juni 2013 ]. Siehe auch den Nachweis bei Herzer Manfred, Magnus
Hirschfeld, Leben und Werk eines jüdischen, schwulen und sozialistischen Se-
xologen ( 1998 ) 102. Herzer hält es allerdings für zweifelhaft, ob tatsächlich eine
Gründung der Zweigstelle des Wissenschaftlich-humanitären Komitees in Wien
stattfand, vgl Herzer Manfred, Magnus Hirschfeld 102 f. Gudrun Hauer und Elisa-
beth Perching erwähnen dagegen sehr wohl eine österreichische Zweigstelle des
Wissenschaftlich-humanitären Komitees, vgl Hauer Gudrun / Perching Elisabeth,
Homosexualitäten 19.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Titel
- Verkehrte Leidenschaft
- Untertitel
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Autor
- Elisabeth Greif
- Verlag
- Jan Sramek Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Abmessungen
- 15.0 x 23.0 cm
- Seiten
- 478
- Kategorie
- Recht und Politik