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Die österreichische Reformdiskussion von 1852 bis zum Ersten Welkrieg
Elisabeth Greif • Verkehrte Leidenschaft ¶
schuss.583 In einem mit Max von Steur unterzeichneten Brief beklagte er
das große Unrecht, welches
» bezogener Paragraf, in seiner derzeitigen Verfassung an den
Urnings [ sic ! ] begeht, die in Folge ihrer schuldlosen sexuellen
Veranlagung und der daraus resultierenden Ausübung der ih-
nen natürlichen geschlechtlichen Befriedigung dem Verbrecher
gleich gestellt, ihrer bürgerlichen Ehre beraubt dem bittersten
Loose [ sic ! ] ausgesetzt sind, und der noch dem Erpresserthum
die willkommenste Unterstützung bietet « 584.
Von Steur hatte ganz offensichtlich die gängige sexualwissenschaftliche
Literatur aufmerksam studiert und suchte sie argumentativ für sein
Anliegen zu nutzen. Er attestierte den » Urnings « einen » moralischen
Defekt «. Neben den Belastungen durch ihr seelisches Leben hätten sie
häufig auch durch körperliche Erkrankungen, wie Neurasthenie, zu lei-
den, die meist der erzwungenen sexuellen Abstinenz geschuldet seien:
» So wie der weibliebende Mann um sich gesund zu erhalten sei-
nen Geschlechtstrieb seiner Natur entsprechend befriedigen
muß, ebenso muß auch der mannliebende Mann diesem beson-
ders mächtig auftretenden sexuellen Empfinden, seiner Natur
entsprechend Folge leisten [ … ]. « 585
Die mann-männliche Liebe, um die es von Steur ausschließlich zu tun
war, sei nur dort unter Strafe zu stellen, wo sie öffentliches Ärgernis er-
regte, wo Jugendliche missbraucht würden oder wo auf einem Abhän-
gigkeitsverhältnis beruhende Gewalt oder Zwang eingesetzt würden.
Die einvernehmliche sexuelle Betätigung unter Erwachsenen ( Män-
nern ) sei straflos zu stellen, ja mehr noch, die Justiz-Verwaltung habe
diese » Stiefkinder der Natur « 586 zu schützen. Vermutlich hatte von Steur
diesen Begriff aus Krafft-Ebings Schrift » Der Conträrsexuale vor dem
Strafrichter « übernommen. Krafft-Ebing plädierte dafür,
583 Es handelt sich hierbei um die früheste auffindbare Privateingabe zum Straftatbe-
stand der gleichgeschlechtlichen Unzucht.
584 11. Session. Permanenter Strafgesetz-Ausschuß. Eingabe vom 18. Mai 1896, Parla-
mentsarchiv Wien.
585 11. Session. Permanenter Strafgesetz-Ausschuß. Eingabe vom 18. Mai 1896, Parla-
mentsarchiv Wien.
586 11. Session. Permanenter Strafgesetz-Ausschuß. Eingabe vom 18. Mai 1896, Parla-
mentsarchiv Wien.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Titel
- Verkehrte Leidenschaft
- Untertitel
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Autor
- Elisabeth Greif
- Verlag
- Jan Sramek Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Abmessungen
- 15.0 x 23.0 cm
- Seiten
- 478
- Kategorie
- Recht und Politik