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Anzeigen durch Sicherheitsbehörden
Elisabeth Greif • Verkehrte Leidenschaft ¶
Der ohnehin schon spärliche Wohnraum wurde nicht selten auch noch
mit Untermietern oder Schlafgängern geteilt, die der Masse der jungen,
meist männlichen Arbeiterschaft entstammten. » Der Schutz des Schlaf-
bereichs als Arkanum der bürgerlichen Familie war in den unteren gesell-
schaftlichen Schichten unbekannt. « 1013 Rückzugsmöglichkeiten existier-
ten für die ökonomisch und sozial schwachen Bevölkerungsschichten
innerhalb des knapp bemessenen Wohnbereiches kaum.1014
Der Mangel an Privatsphäre gemeinsam mit der höheren Kontroll-
dichte durch Sicherheitswachebeamte ließen es im städtischen Raum
sehr viel wahrscheinlicher erscheinen, dass unzüchtige Handlungen
durch Sicherheitsorgane entdeckt wurden, als auf dem Land. Hier spiel-
ten Anzeigen durch Gendarmeriebeamte, die Unzuchtsakte selbst be-
obachtet hatten, kaum eine Rolle.1015 Dazu kam, dass Oberösterreich
zu den städteärmsten Bundesländern der jungen Republik zählte. Die
Urbanisierung hatte hier vergleichsweise spät eingesetzt.1016 Annähernd
die Hälfte der Einwohnerinnen und Einwohner lebte in Gemeinden mit
weniger als 2.000 Personen. Die Gemeinden selbst bestanden aus meh-
reren kleinen Ortschaften, die in großer Entfernung voneinander lagen
und eine ländliche Struktur aufwiesen.1017 Im städtischen Raum sollten
die Rayons der Sicherheitswache nur so groß sein, dass ein Wachebe-
amter das ganze Gebiet in weniger als einer halben Stunde abgehen
konnte.1018 Auch auf dem Land galt das Abpatrouillieren des Rayons als
treter Franz W. und den Schüler Johann R. mehrmals dabei zu beobachten, wie sie
gemeinsam den Abort aufsuchten, sich dort einschlossen und längere Zeit darin
blieben, was zu der Vermutung Anlass gab, » daß möglich zwischen den beiden
ein Sittlichkeitsdelikt stattfand. «, OÖLA, BG / LG Linz, Sch 383, 8b Vr 184 / 32, Nie-
derschrift vom 15. November 1931.
1013 Becher Ursula A.J., Geschichte des modernen Lebensstils ( 1990 ) 127.
1014 Vgl Becher Ursula A.J., Geschichte 126 f, 131 f. Zu der durch die Wohnsituation beding-
ten Häufigkeit sexueller Kontakte im Freien vgl auch Dobler Jens, Duldungspolitik 355.
1015 Allgemein zu den Unterschieden der Verfolgung gleichgeschlechtlicher Unzucht
zwischen Stadt und Land vgl Müller Albert / Fleck Christian, ÖZG 1998, 418; zum
Mühlviertel als Verfolgungsraum während der NS-Zeit vgl Knoll Albert / Brüstle Tho-
mas in Oberösterreichisches Landesarchiv ( hg ), Reichsgau Oberdonau II 177 f.
1016 Vgl John Michael, Land in Veränderung: Oberösterreich zur Zeit der Industrialisie-
rung. Zu Aspekten der Wirtschaftsentwicklung, Migration und Urbanisierung im 19.
Jahrhundert, Mitteilungen des Oberösterreichischen Landesarchivs ( 1990 ) 313 ( 324 f ).
1017 Vgl Hecke Wilhelm, Die ersten Ergebnisse der außerordentlichen Volkszählung vom
31. Jänner 1920, Statistische Monatsschrift 1920, 95 ( 96 ).
1018 Vgl Allgemeine Grundsätze über die Ausübung des Dienstes, genehmigt mit Erlaß
des Ministeriums des Innern vom 16. Dezember 1892, Z. 24863, abgedruckt in Deh-
mal Heinrich, Polizeigesetzgebung 397 ( 404 ).
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Titel
- Verkehrte Leidenschaft
- Untertitel
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Autor
- Elisabeth Greif
- Verlag
- Jan Sramek Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Abmessungen
- 15.0 x 23.0 cm
- Seiten
- 478
- Kategorie
- Recht und Politik