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264 VI. Veranlassungsgründe der Strafverfahren
Elisabeth Greif • Verkehrte
Leidenschaft¶
von ihrer Unschuld ausgegangen. Bei mündigen Minderjährigen war
der Nachweis der Schuldlosigkeit dagegen schwieriger zu erbringen.1115
Abgrenzungsschwierigkeiten bestanden bei den angezeigten Taten
zwischen dem Straftatbestand der Schändung und jenem der gleich-
geschlechtlichen Unzucht.1116 Die extensive Auslegung des § 129 I b
StG 1852 durch den Obersten Gerichtshof engte allerdings bei sexuel-
len Übergriffen von Männern an Knaben den Anwendungsbereich für
§ 128 StG 1852 zunehmend ein.1117 Dies trug ab der Jahrhundertwende
wesentlich zur Etablierung der Figur des – homosexuellen – » Knaben-
schänders « bei, der in den Debatten um die Beseitigung oder Novellie-
rung des § 129 I b StG 1852 immer wieder zitiert und dazu herangezogen
wurde, die Forderung nach speziellen Jugendschutzbestimmungen zu
bekräftigen.1118
Wurden sexuelle Übergriffe an Kindern bekannt, erfolgte die An-
zeige meist durch den Vater des Opfers, seltener waren Anzeigen durch
Mütter 1119 oder Geschwister 1120. Die Geschlechterverteilung bei den
1115 Zur zunehmenden Bedeutung des Alters im Hinblick auf die Opfer sexueller Ge-
walt siehe insb auch Robertson Stephen, › Boys, of Course, Cannot be Raped ‹: Age,
Homosexuality and the Redefinition of Sexual Violence in New York City, 1880–1955,
Gender & History 2006, 357.
1116 Von » geschlechtlichem Mißbrauch « wurde tatsächlich nur gesprochen, wenn das
Gericht letztendlich zu dem Schluss kam, dass der Tatbestand der Schändung
nach § 128 StG 1852 erfüllt war. Ausnahmen finden sich nur in OÖLA, BG / LG Linz
Sch 304, Vr VI E 88 / 24 sowie in OÖLA, BG / LG Linz Sch 306, Vr VI E 827 / 24 ( hier er-
folgte die Anzeige ursprünglich wegen unsittlicher Handlungen nach § 516 StG
1852 ). Nach Altmann / Jacob sollten allerdings die Begriffe » geschlechtlicher Miß-
brauch « und » Unzucht « gleichbedeutend sein, vgl Altmann Ludwig / Jacob Siegfried,
Kommentar 340.
1117 § 128 StG 1852 war nur anzuwenden, wenn die Handlung nicht das in § 129 I b StG
1852 bezeichnete Verbrechen bildete, vgl Kapitel II.
1118 Vgl Kapitel IV. Da das Bild des » homosexuellen Kinderschänders « den rechtlichen
Diskurs entscheidend prägte, wurden Fälle, die sich nach heutigem Verständnis
als sexuelle Gewalt an Unmündigen darstellen, aber im Untersuchungszeitraum
als Fälle gleichgeschlechtlicher Unzucht verhandelt wurden, nicht ausgeschieden.
Zur Wirkmächtigkeit der Figur des » Kinderschänders « in der Zweiten Republik
vgl Weingand Hans-Peter, Invertito – Jahrbuch für die Geschichte der Homosexu-
alitäten 2011, 63 f. Zur Figur des Knabenschänders außerdem Kerchner Brigitte in
Hardtwig Wolfgang ( hg ), Kulturgeschichte 241.
1119 Vor allem – aber nicht nur – bei vaterlosen oder unehelichen Kindern, vgl etwa
OÖLA, BG / LG Linz Sch 383, 6 Vr 220 / 32; OÖLA, BG / LG Linz Sch 493 / 37.
1120 Vgl OÖLA, BG / LG Linz Sch 335, 6 Vr 1309 / 28. 1930 zeigte die Schwester des zwanzig
Jahre alten, geistig beeinträchtigten Franz W. an, dass sich der bereits einschlägig
vorbestrafte Engelbert E. an ihm vergangen hatte; OÖLA, BG / LG Linz Sch 355, 12
Vr 142 / 30.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Titel
- Verkehrte Leidenschaft
- Untertitel
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Autor
- Elisabeth Greif
- Verlag
- Jan Sramek Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Abmessungen
- 15.0 x 23.0 cm
- Seiten
- 478
- Kategorie
- Recht und Politik