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Vorerhebungen und Voruntersuchung
Elisabeth Greif • Verkehrte Leidenschaft ¶
§ 91 StPO 1873 auf Antrag des Staatsanwaltes durch den Untersuchungs-
richter zu prüfen. Während die Strafprozeßordnung 1873 für das Haupt-
verfahren Öffentlichkeit und Mündlichkeit vorsah, blieb das Vorverfah-
ren weitestgehend dem Prinzip der Geheimhaltung verhaftet und trug
nach wie vor inquisitorische Züge.1179 Die Beschuldigten sollten zwar im
Anklageprozess nicht länger als » Untersuchungsobjekte «, sondern als
» Subjekte « angesehen werden, mit entsprechenden Parteirechten wur-
den sie allerdings erst ab dem Zeitpunkt der Versetzung in den Anklage-
stand ausgestattet. Im Vorverfahren blieben Verdächtige und Beschul-
digte dagegen in ihren Beteiligungs- und Verteidigungsmöglichkeiten
gegenüber dem Staatsanwalt deutlich eingeschränkt.1180
Die Leitung der Vorerhebungen oblag dem Staatsanwalt. Ohne seinen
Antrag konnte der Untersuchungsrichter gem § 89 StPO 1873 lediglich un-
aufschiebbare Handlungen vornehmen. Dahingegen waren die Bezirks-
gerichte ermächtigt, ab dem Zeitpunkt, an dem sie dem Staatsanwalt
eine strafbare Handlung angezeigt hatten, Vorerhebungen durchzufüh-
ren, ohne entsprechende Anträge abwarten zu müssen. Die Sicherheits-
behörden wiederum waren bei den Vorerhebungen gänzlich unselbstän-
dig, ihr Tätigwerden war nur aufgrund eines staatsanwaltlichen Antrages
vorgesehen. Der Strafprozeßordnung 1873 lag damit im Prinzip ein » Un-
tersuchungsrichterkonzept « zugrunde, das allerdings durch ministeri-
elle Vollzugsvorschriften und Vollzugsanweisung bereits im Jahr der Er-
lassung des Gesetzes unterlaufen wurde: Sie wiesen die Staatsanwälte an,
zu Vorerhebungen zunächst die Polizeibehörden heranzuziehen,1181 da
1179 Eine eindrucksvolle Schilderung findet sich bei Kittler Wolf, Heimlichkeit und Schrift-
lichkeit: Das österreichische Strafprozessrecht in Franz Kafkas Roman Der Proceß,
The Germanic Review 2003, 194 ( 195 ff ). Aus strafrechtlicher Sicht vgl Triffterer Otto,
Soll die Voruntersuchung im österreichischen Strafverfahren beibehalten, refor-
miert oder abgeschafft werden ? in GedS Rödig ( 1978 ) 349 ( 353 ). Die inquisitorischen
Züge des Vorverfahrens wurden auch im zeitgenössischen Schrifttum kritisiert,
siehe etwa Zucker Alois, Aprise und loial enquete. Ein Beitrag zur Feststellung der
historischen Basis der modernen Voruntersuchung ( 1887 ) 1 ff; Amschl Alfred, Beiträge
zur Anwendung des Strafverfahrens I 2 ( 1911 ) 27 f; Vargha Julius, Strafprozessrecht 2 239;
Mittermaier Wolfgang, Die strafrechtliche Gesetzgebung Österreichs von 1929 bis 1931,
ZStW 1932, 272 ( 283 ); Lohsing Ernst, Strafprozeßrecht 3 151 ( mit Einschränkungen ).
1180 Vgl Vargha Julius, Strafprozessrecht 2 35 f; umfassend Seiler Stefan, Die Stellung des
Beschuldigten im Anklageprozess ( 1996 ) 24 ff, 140 ff. Triffterer spricht diesbezüglich
vom » Grundsatz der weitgehenden Geheimhaltung des Ermittlungsverfahrens «,
vgl Triffterer Otto in GedS Rödig 353.
1181 § 70 Verordnung des Justizministers vom 19. November 1873, Nr. 152 R.G.B., womit
im Einvernehmen mit dem Minister des Innern eine Vollzugsvorschrift zur Straf-
proceß-Ordnung vom 23. Mai 1873, Nr. 119 R.G.B., erlassen wird, RGBl 1873 / 152.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Titel
- Verkehrte Leidenschaft
- Untertitel
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Autor
- Elisabeth Greif
- Verlag
- Jan Sramek Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Abmessungen
- 15.0 x 23.0 cm
- Seiten
- 478
- Kategorie
- Recht und Politik