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Das Suchen und Finden von Beweisen
Elisabeth Greif • Verkehrte Leidenschaft ¶
Gross erblickte den wesentlichen Unterschied zwischen Zeugen- und Be-
schuldigtenvernehmung darin, dass sich bei ersterer der Wahrheitsgehalt
unmittelbar aus der Aussage, bei letzterer aus der Art der Beschuldigten-
verantwortung in Verbindung mit den restlichen Erhebungen erschlie-
ßen sollte.1308 Während das Erscheinen von Beschuldigten im Rahmen
der Voruntersuchung durch Vorladung beziehungsweise Vorführung von
in Haft befindlichen Personen erzwungen werden konnte, war die Be-
schuldigtenaussage nicht erzwingbar. § 202 StPO 1873 untersagte es dem
Untersuchungsrichter, Versprechungen, Vorspiegelungen, Drohungen
oder Zwangsmittel einzusetzen, um Beschuldigte zu einem Geständnis
oder anderen Angaben zu bewegen.1309 Die Beschuldigtenvernehmung
sollte vielmehr dem Grundsatz des beiderseitigen Gehörs dienen. Den
Beschuldigten waren die gegen sie sprechenden Verdachtsgründe zur
Kenntnis zu bringen, und es war ihnen Gelegenheit zu geben, sich zu ver-
teidigen.1310 Von » Waffengleichheit « zwischen den Parteien des Strafver-
fahrens konnte im Vorverfahren allerdings nicht die Rede sein: Die Ver-
nehmung erfolgte zwar ohne Beisein des öffentlichen Anklägers, jedoch
auch ohne Beisein eines allfälligen Verteidigers der Beschuldigten. Sogar
die Akteneinsicht konnte der Untersuchungsrichter gem § 45 StPO 1873
dem Verteidiger im Vorverfahren verweigern, wenn er sie für » mit dem
Zwecke des Verfahrens unvereinbar « hielt.1311 Dagegen hatte jedes Verhör
gem § 199 Abs 1 StPO 1873 mit der an die Beschuldigten gerichteten Er-
mahnung zu beginnen, die gestellten Fragen » bestimmt, deutlich und
der Wahrheit gemäß « zu beantworten. Die juristische Lehre zeigte sich
nur zögerlich bereit anzuerkennen, dass das reformierte Strafverfahren
Beschuldigten weder die » sittliche « 1312 noch die rechtliche Pflicht aufer-
1308 Vgl Gross Hans / Höpler Erwein, Handbuch I 7 78.
1309 Das polizeiliche Verfahren war dagegen weitestgehend formlos, ein » energisches «
Anstreben des Geständnisses daher viel eher möglich, vgl Horn Fritz, JBl 1927, 259.
1310 Vgl Rulf Friedrich, Der österreichische Strafprocess unter Berücksichtigung der
Rechtsprechung des Cassationshofes 3 ( 1895 ) 116. Desgleichen Henschel Arthur, Ver-
nehmung 18 ff.
1311 In der ursprünglichen Fassung der Strafprozessordnung 1873 hatte die Gewährung
der Akteneinsicht die Ausnahme dargestellt. Die Strafprozesnovelle 1918 versuchte,
die Akteneinsicht durch den Verteidiger zur Regel zu machen und ihre Verweige-
rung zur Ausnahme, siehe dazu Foregger Egmont, Die Grundrechte in der Strafpro-
zeßordnung 1873 und heute. Ein Überblick, in FS Hundert Jahre österreichische
Strafprozeßordnung 1873–1973 ( 1973 ) 1 ( 13 ). Tatsächlich gewährt wurde die Akten-
einsicht selten, vgl Moos Reinhard in Jung Heike ( hg ), Strafprozeß 59.
1312 So aber Rulf Friedrich, Strafprocess 3 116; Brunnenmeister Emil, Grundriß zur Vorle-
sung über österreichisches Strafproceßrecht mit Beilagen ( 1893 ) 46.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Titel
- Verkehrte Leidenschaft
- Untertitel
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Autor
- Elisabeth Greif
- Verlag
- Jan Sramek Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Abmessungen
- 15.0 x 23.0 cm
- Seiten
- 478
- Kategorie
- Recht und Politik