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Sprechen vor Gericht
Elisabeth Greif • Verkehrte Leidenschaft ¶
Beratung über die Beantwortung einzelner Fragen schloss § 245 StPO
1873 aus. Auch in der Hauptverhandlung waren die Angeklagten nicht
verpflichtet, die an sie gerichteten Fragen zu beantworten. Bereits Mayer
hatte betont, dass das Aussageverweigerungsrecht des Angeklagten » in
seinen äußersten Consequenzen « bedeuten müsse, » daß aus seinem
Schweigen keinerlei Folgerungen zu seinem Nachteile abgeleitet wer-
den. « 1581 In der Praxis gestaltete sich das Vorgehen freilich häufig an-
ders.1582 Ferner gestattete die Strafprozeßordnung 1873 für den Fall, dass
Angeklagte von früheren Aussagen abwichen oder die Antwort auf eine
bestimmte Frage verweigerten, sowohl die Frage nach dem Grund der
Abweichung als auch die Verlesung von Protokollen, die über die frü-
here Aussage aufgenommen worden waren. Immer wieder wurde kriti-
siert, dass damit der Voruntersuchung weit mehr Bedeutung zuerkannt
wurde als bloße Antwort auf die Frage zu geben, ob Anklage erhoben wer-
den sollte: Durch die Verlesung von Aussagen aus der Voruntersuchung
würde die Hauptverhandlung zu einer, an das inquisitorische Verfahren
gemahnenden » formellen Schlußverhandlung « 1583 umgestaltet.1584
Aber auch Angeklagte, die sich auf die Verhandlung einließen und
aussagten, waren in ihrer Rede keineswegs frei: Stellung und Funktion,
die der Aussage Angeklagter nach den verfahrensrechtlichen Vorschrif-
ten zukamen, verliehen ihr den Charakter einer Antwort auf den in der
Anklageschrift geäußerten Vorwurf.1585 Außerdem handelte es sich bei
diesen Aussagen auch nicht um erstmaliges, spontanes Erzählen, son-
dern um die Wiedergabe einer Geschichte, die in wiederholten Verneh-
mungen während des Vorverfahrens eingeübt worden war.1586 An die Aus-
1581 Mayer Salomon, Handbuch II 220 ( Hervorhebungen im Original ).
1582 So weist etwa Vargha darauf hin, dass der Vorsitzende schon durch die strafverfah-
rensrechtliche Ausgestaltung seiner Position den Angeklagten gegenüber in die Stel-
lung » eines im Sinne der Anklage wirkenden Inquirenten « versetzt würde. Angeklagte
würden unter diesem Eindruck nur selten von ihrem Recht, die Aussage zu verwei-
gern, Gebrauch machen, vgl Vargha Julius, Strafprozessrecht 2 304, insb auch Fn 1.
1583 Waser Joseph von, Die Anwendung der Strafproceß-Ordnung, Allgemeine Österrei-
chische Gerichts-Zeitung 1876, 61 ( 62 ).
1584 Siehe insbesondere Horn Fritz, JBl 1927, 259 mit ausführlichen Nachweisen. Zur
festlegenden Wirkung von Protokollen im Strafprozess vgl auch Capus Nadja / Stoll
Mirjam / Vieth Manuela, Protokolle von Vernehmungen im Vergleich und Rezepti-
onswirkungen im Strafverfahren, Zeitschrift für Rechtssoziologie 2014, 225.
1585 Vgl Seibert Thomas-Michael, Erzählen als gesellschaftliche Konstruktion von Kri-
minalität, in Schönert Jörg ( hg ), Kriminalität 75.
1586 Zum biographischen Erzählen im Rahmen eines Strafverfahrens vgl Legnaro
Aldo / Aengenheister Astrid, Aufführung 24 ff.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Titel
- Verkehrte Leidenschaft
- Untertitel
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Autor
- Elisabeth Greif
- Verlag
- Jan Sramek Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Abmessungen
- 15.0 x 23.0 cm
- Seiten
- 478
- Kategorie
- Recht und Politik