Seite - 394 - in Verkehrte Leidenschaft - Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Bild der Seite - 394 -
Text der Seite - 394 -
394 X. Schlussbetrachtung
Elisabeth Greif • Verkehrte
Leidenschaft¶
Die in den sexualwissenschaftlichen Schriften verfügbaren Wissens-
bestände erreichten nicht nur ein fachlich entsprechend gebildetes Pu-
blikum. Neben wissenschaftlichen Zeitschriften berichteten auch Perio-
dika über die neuen Erkenntnisse, die breitere Bevölkerungsschichten
ansprachen. Wer sich für sexuelle Fragen interessierte, konnte sich das
ursprünglich an eine medizinische Fachwelt gerichtete Wissen dort in
popularisierter Form aneignen.1786 Einige Disziplinen wurden außer-
dem von den Sexualwissenschaftern direkt angesprochen. So wurde
etwa die Rechtswissenschaft darüber aufgeklärt, dass » [ d ]er Zweck aller
sexuellen Acte « 1787 die Befriedigung sexueller Bedürfnisse sei. Verschie-
dengeschlechtlicher und gleichgeschlechtlicher Verkehr würden sich
lediglich darin unterscheiden, wie diese Befriedigung erreicht wurde,
nicht aber in den dadurch hervorgerufenen physiologischen Vorgän-
gen. Ebenso wenig käme es auf die » Beischlafähnlichkeit « eines Aktes
an. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus sei die Beschränkung der
Strafbarkeit auf bestimmte gleichgeschlechtliche Handlungen abzu-
lehnen, da sie alle letztendlich dasselbe Ziel verfolgten. Während die
Mehrheit der Sexualwissenschafter dies als Argument für eine Entkri-
minalisierung der gleichgeschlechtlichen Unzucht verstand, verkehrte
es sich in den Händen der Justiz in sein Gegenteil. Ausgehend von der
sexualwissenschaftlichen Prämisse, dass sämtlichen gleichgeschlecht-
lichen Handlungen dieselbe Qualität eigne, war es für die Richterschaft
ein Leichtes, nicht länger die Beischlafähnlichkeit als Anknüpfungs-
punkt für die Strafbarkeit zu nehmen: Stattdessen sollte der Tatbestand
der Unzucht wider die Natur durch jeden » der Sinnenlust dienenden
geschlechtlichen Missbrauch des Körpers « 1788 erfüllt sein, wenn dieser
mit oder an einer Person desselben Geschlechts stattfand. » Fleisches-
lust « wurde zur » Sinneslust « – wo ihre Erregung gesucht und dabei die
» Grenzen der Sitte « überschritten wurden, lag strafbares Handeln vor.
Der neue Bestand an Wissen über das menschliche Geschlechtsleben,
das über die Sexualwissenschaft in die Rechtsprechung einfloss, trug
so zu einer erheblichen Ausweitung des Straftatbestandes der gleich-
geschlechtlichen Unzucht bei.
1786 So brachte etwa die Zeitschrift » Die Frau und Mutter. Zeitschrift für Kinderpflege
und Erziehung sowie für Gesundheit in Haus und Familie « 1918 in Heft 9 den Bei-
trag eines » Dr. M.K. « mit dem Titel » Die konträre Sexualempfindung «.
1787 Krafft-Ebing Richard von, Conträrsexuale 71.
1788 E vom 15. Juni 1906, KH 3209.
zurück zum
Buch Verkehrte Leidenschaft - Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin"
Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Titel
- Verkehrte Leidenschaft
- Untertitel
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Autor
- Elisabeth Greif
- Verlag
- Jan Sramek Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Abmessungen
- 15.0 x 23.0 cm
- Seiten
- 478
- Kategorie
- Recht und Politik