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X. Schlussbetrachtung
Elisabeth Greif • Verkehrte Leidenschaft ¶
Auch dort, wo die Sexualwissenschaft ganz explizit zur Frage der
Strafbarkeit der Unzucht wider die Natur Stellung nahm und sich für
eine Aufhebung des » Unzuchtsparagraphen « einsetzte, konnte sie
das gewünschte Ergebnis nicht erzielen. Dabei wurden sexualwissen-
schaftliche Wissensbestände auf unterschiedliche Weise und mit un-
terschiedlicher Autorität in den Debatten um eine Strafrechtsreform
zur Sprache gebracht: Der k.k. oberste Sanitätsrat in Österreich und
die » Königliche wissenschaftliche Deputation für das Medicinalwesen
in Preussen « empfahlen in Gutachten die Streichung der widernatürli-
chen Unzucht aus den Strafgesetzentwürfen, Krafft-Ebing und Hirschfeld
meldeten sich mit ausdrücklichen Appellen zu Wort und schließlich
richteten auch Betroffene vereinzelt Petitionen an das Parlament. Sie
alle beriefen sich darauf, » daß es sich bei der echten Homosexualität
[ … ] um eine tiefinnerliche konstitutionelle Anlage handelt « 1789, für die
niemand gestraft werden dürfe. Innerhalb der Gesetzgebung setzten
sich vor allem sozialdemokratische Abgeordnete für eine Abschaffung
des Straftatbestandes ein. Dagegen lehnten Christlichsoziale wie Groß-
deutsche die völlige Freigabe der gleichgeschlechtlichen Unzucht ab, da
sie » den Charakter der Massen des Volkes « 1790 verderbe. Kein Einver-
nehmen herrschte zwischen den beiden Parteien allerdings über die
Frage, ob die gänzliche Beibehaltung oder aber eine Einschränkung der
Strafbarkeit besser geeignet wäre, die » Ausbreitung « der Konträrsexua-
lität, ihr öffentliches In-Erscheinung-Treten und die Zunahme » homo-
sexueller Propaganda « einzudämmen. Die jahrzehntelangen Bemühun-
gen um eine Reform des Strafrechts scheiterten letzten Endes alle an
den politischen Verhältnissen. Was die widernatürliche Unzucht betraf,
hatte man sich auch im letzten, in deutsch-österreichischer Zusammen-
arbeit entstandenen Strafgesetzentwurf lediglich auf die Beschränkung
der Strafbarkeit der mann-männlichen Unzucht auf qualifizierte Fälle
und die Beseitigung der Strafbarkeit der Unzucht unter Frauen verstän-
digen können.
Obwohl der Entwurf nicht mehr beschlossen wurde, zeigt sich an
ihm deutlich, wie stark die Wahrnehmung gleichgeschlechtlicher Un-
zucht vergeschlechtlicht war und wie unterschiedlich sich dieses verge-
1789 Kartell für Reform des Sexualstrafrechts, Gegen-Entwurf 49 ( Hervorhebung im Ori-
ginal ).
1790 StenProt 40. Sitzung des Sonderausschusses zur Beratung des Strafgesetzbuches
am 16. Jänner 1930, Parlamentsarchiv Wien.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Titel
- Verkehrte Leidenschaft
- Untertitel
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Autor
- Elisabeth Greif
- Verlag
- Jan Sramek Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Abmessungen
- 15.0 x 23.0 cm
- Seiten
- 478
- Kategorie
- Recht und Politik