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X. Schlussbetrachtung
Elisabeth Greif • Verkehrte Leidenschaft ¶
» infolge ihres Berufes pervers veranlagt. « 1793 Der Topos der » lesbischen
Prostituierten « schien damit andere Deutungsmuster fast vollständig zu
verdrängen. » Schamlosigkeit « und » Verdorbenheit « dienten Ärzten wie
auch Juristen als Erklärung für gleichgeschlechtliche Unzuchtshandlun-
gen unter Frauen. Eine konträrsexuelle Veranlagung wurde selten für
wahrscheinlich gehalten. » Unzüchtig handelnde « Frauen waren damit
für einen Bereich, in dem das sexualwissenschaftliche Wissen auf ganz
spezifische Weise Eingang in den juristischen Diskurs fand, weniger in-
teressant: Die sachverständige Begutachtung » unzüchtig Handelnder « in
Strafverfahren zur Beurteilung ihrer Zurechnungsfähigkeit.
Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die Sexualwissenschaft be-
gonnen, die » konträre Sexualempfindung « nicht länger als Laster, son-
dern als ein eigenständiges, die gesamte Persönlichkeit prägendes Phä-
nomen zu betrachten. Als Folge dieser Bedeutungsverschiebung wurde
untersucht, ob sich ein Zusammenhang zwischen abweichendem Se-
xualverhalten und einer geistigen Erkrankung nachweisen ließ. Die Pa-
thologisierung der konträren Sexualempfindung und das verstärkte In-
teresse für die Persönlichkeit der Konträrsexuellen machten aus einer
forensisch-medizinischen Tatfrage ein Schuldproblem: Falls es sich bei
der konträren Sexualempfindung um eine psychische Funktionsstörung,
um ein » moralisches Irresein « handelte, wie manche Ärzte annahmen,
stellte sich die Frage, ob konträrsexuell Veranlagte für unzüchtige Hand-
lungen überhaupt verantwortliche gemacht werden konnten. Diese De-
batte vollzog sich vor dem Hintergrund einer generellen Auseinanderset-
zung zwischen Medizin, forensischer Psychiatrie und Jurisprudenz um
die Deutungshoheit hinsichtlich der Schuldfähigkeit. Sie wurde durch
den Umstand befördert, dass der Rechtswissenschaft an der Wende
vom 19. Zum 20. Jahrhundert die rechtsdogmatische Differenzierung je-
ner Gründe gelungen war, die den » bösen Vorsatz « ausschlossen. Man
wusste nunmehr zwischen Schuldausschließungs-, Strafausschließungs-,
Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen zu unterscheiden. Fehlte
es an der Zurechnungsfähigkeit, so lag ein zentrales Element der Schuld
nicht vor. Nach Ansicht der Sexualwissenschaft wurde die freie Willens-
bestimmung eines Menschen durch eine konträrsexuelle Veranlagung
zwar herabgesetzt, aber nicht gänzlich ausgeschaltet. Das österreichi-
sche Strafrecht wiederum erkannte nur die dauernde oder vorüberge-
1793 OÖLA, BG / LG Linz Sch 353, 12 Vr 1963 / 29, Bericht vom 23. Dezember 1929.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Titel
- Verkehrte Leidenschaft
- Untertitel
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Autor
- Elisabeth Greif
- Verlag
- Jan Sramek Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Abmessungen
- 15.0 x 23.0 cm
- Seiten
- 478
- Kategorie
- Recht und Politik