Seite - 5 - in Grigia
Bild der Seite - 5 -
Text der Seite - 5 -
Mahagonischale. Eine Tapete mit einem unsagbar wirren, geschmacklosen,
aber durchaus unvollendbaren und fremden Muster. Und ein Schaukelstuhl
aus Rohr; wenn man sich in diesem wiegt und die Tapete anschaut, wird der
ganze Mensch zu einem auf- und niederwallenden Gewirr von Ranken, die
binnen zweier Sekunden aus dem Nichts zu ihrer vollen Größe anwachsen
und sich wieder in sich zurückziehen.
In den Straßen war eine Luft, aus Schnee und Süden gemischt. Es war
Mitte Mai. Abends waren sie von großen Bogenlampen erhellt, die an
quergespannten Seilen so hoch hingen, daß die Straßen darunter wie
Schluchten von dunklem Blau lagen, auf deren finstrem Grund man
dahingehen mußte, während sich oben im Weltraum weiß zischende Sonnen
drehten. Tagsüber sah man auf Weinberg und Wald. Das hatte den Winter rot,
gelb und grün überstanden; weil die Bäume das Laub nicht abwarfen, war
Welk und Neu durcheinandergeflochten wie in Friedhofskränzen, und kleine
rote, blaue und rosa Villen staken, sehr sichtbar noch, wie verschieden
gestellte Würfel darin, ein ihnen unbekanntes, eigentümliches Formgesetz
empfindungslos vor aller Welt darstellend. Oben aber war der Wald dunkel
und der Berg hieß Selvot. Er trug über dem Wald Almböden, die, verschneit,
in breitem, gemäßigtem Wellenschlag über die Nachbarberge weg das kleine
hart ansteigende Seitental begleiteten, in das die Expedition einrücken sollte.
Kamen, um Milch zu liefern und Polenta zu kaufen, Männer von diesen
Bergen, so brachten sie manchmal große Drusen Bergkristall oder Amethyst
mit, die in vielen Spalten so üppig wachsen sollten wie anderswo Blumen auf
der Wiese, und diese unheimlich schönen Märchengebilde verstärkten noch
mehr den Eindruck, daß sich unter dem Aussehen dieser Gegend, das so
fremd vertraut flackerte wie die Sterne in mancher Nacht, etwas sehnsüchtig
Erwartetes verberge. Als sie in das Gebirgstal hineinritten und um sechs
Uhr Sankt Orsola passierten, schlugen bei einer kleinen, eine buschige
Bergrinne überquerenden Steinbrücke wenn nicht hundert, so doch sicher
zwei Dutzend Nachtigallen; es war heller Tag.
Als sie drinnen waren, befanden sie sich an einem seltsamen Ort. Er hing
an der Lehne eines Hügels; der Saumweg, der sie hingeführt hatte, sprang
zuletzt förmlich von einem großen platten Stein zum nächsten, und von ihm
flossen, den Hang hinab und gewunden wie Bäche, ein paar kurze, steile
Gassen in die Wiesen. Stand man am Weg, so hatte man nur vernachlässigte
und dürftige Bauernhäuser vor sich, blickte man aber von den Wiesen unten
herauf, so meinte man sich in ein vorweltliches Pfahldorf zurückversetzt,
denn die Häuser standen mit der Talseite alle auf hohen Balken, und ihre
Abtritte schwebten etwas abseits von ihnen wie die Gondeln von Sänften auf
vier schlanken baumlangen Stangen über dem Abhang. Auch die Landschaft
um dieses Dorf war nicht ohne Sonderbarkeiten. Sie bestand aus einem mehr
5
zurück zum
Buch Grigia"
Grigia
- Titel
- Grigia
- Autor
- Robert Musil
- Datum
- 1924
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 21
- Kategorien
- Weiteres Belletristik