Seite - 9 - in Grigia
Bild der Seite - 9 -
Text der Seite - 9 -
Kindergesicht unter dem spitz vorstehenden Kopftuch der Altvordern
keineswegs, sondern schnob nur heiter aus Nase und Augen, die Spitzen ihrer
kleinen Schuhboote kippten um die Fersen hoch, und mit geschultertem
Rechen wäre sie beinahe aufs zurückschnellende Gesäß gefallen, wenn das
Ganze nicht bloß ein Ausdruck lieblich ungeschickten Erstaunens über die
Begehrlichkeit des Manns hätte sein sollen, wie in der komischen Oper. Ein
andermal fragte er eine große Bäurin, die aussah wie eine deutsche Wittib am
Theater, »bist Du noch eine Jungfrau, sag?!« und faßte sie am Kinn, – wieder
nur so, weil die Scherze doch etwas Mannsgeruch haben sollen; die aber ließ
das Kinn ruhig auf seiner Hand ruhn und antwortete ernst: »Ja, natürlich.«
Homo verlor da fast die Führung; »Du bist noch eine Jungfrau?!« wunderte er
sich schnell und lachte. Da kicherte sie mit. »Sag!?« drang er jetzt näher und
schüttelte sie spielend am Kinn. Da blies sie ihm ins Gesicht und lachte:
»Gewesen!«
»Wenn ich zu Dir komm, was krieg ich?« frug es sich weiter.
»Was Sie wollen.«
»Alles, was ich will?«
»Alles.«
»Wirklich alles?!«
»Alles! Alles!!« und das war eine so vorzüglich und leidenschaftlich
gespielte Leidenschaft, daß diese Theaterechtheit auf sechzehnhundert Meter
Höhe ihn sehr verwirrte. Er wurde es nicht mehr los, daß dieses Leben,
welches heller und würziger war als jedes Leben zuvor, gar nicht mehr
Wirklichkeit, sondern ein in der Luft schwebendes Spiel sei.
Es war inzwischen Sommer geworden. Als er zum erstenmal die Schrift
seines kranken Knaben auf einem ankommenden Brief gesehen hatte, war
ihm der Schreck des Glücks und heimlichen Besitzes von den Augen bis in
die Beine gefahren; daß sie jetzt seinen Aufenthaltsort wußten, erschien ihm
wie eine ungeheure Befestigung. Er ist hier, oh, man wußte nun alles, und er
brauchte nichts mehr zu erklären. Weiß und violett, grün und braun standen
die Wiesen. Er war kein Gespenst. Ein Märchenwald von alten
Lärchenstämmen, zartgrün behaarten, stand auf smaragdener Schräge. Unter
dem Moos mochten violette und weiße Kristalle leben. Der Bach fiel einmal
mitten im Wald über einen Stein so, daß er aussah wie ein großer silberner
Steckkamm. Er beantwortete nicht mehr die Briefe seiner Frau. Zwischen den
Geheimnissen dieser Natur war das Zusammengehören eines davon. Es gab
eine zart scharlachfarbene Blume, es gab diese in keines anderen Mannes
Welt, nur in seiner, so hatte es Gott geordnet, ganz als ein Wunder. Es gab
eine Stelle am Leib, die wurde versteckt und niemand durfte sie sehn, wenn er
9
zurück zum
Buch Grigia"
Grigia
- Titel
- Grigia
- Autor
- Robert Musil
- Datum
- 1924
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 21
- Kategorien
- Weiteres Belletristik