Seite - 11 - in Grigia
Bild der Seite - 11 -
Text der Seite - 11 -
Füßen.
Von diesem Tag an war er von einer Bindung befreit, wie von einem steifen
Knie oder einem schweren Rucksack. Der Bindung an das
Lebendigseinwollen, dem Grauen vor dem Tode. Es geschah ihm nicht, was
er immer kommen geglaubt hatte, wenn man bei voller Kraft sein Ende nahe
zu sehen meint, daß man das Leben toller und durstiger genießt, sondern er
fühlte sich bloß nicht mehr verstrickt und voll einer herrlichen Leichtheit, die
ihn zum Sultan seiner Existenz machte.
Die Bohrungen hatten zwar nicht recht vorwärts geführt, aber es war ein
Goldgräberleben, das sie umspann. Ein Bursche hatte Wein gestohlen, das
war ein Verbrechen gegen das gemeine Interesse, dessen Bestrafung
allgemein auf Billigung rechnen konnte, und man brachte ihn mit gebundenen
Händen. Mozart Amadeo Hoffingott ordnete an, daß er zum abschreckenden
Beispiel Tag und Nacht lang an einen Baum gebunden stehen sollte. Aber als
der Werkführer mit dem Strick kam, ihn zum Spaß eindrucksvoll hin und her
schwenkte und ihn zunächst über einen Nagel hing, begann der Junge am
ganzen Leib zu zittern, weil er nicht anders dachte, als daß er aufgeknüpft
werden solle. Ganz das gleiche geschah, obwohl das schwer zu begründen
wäre, wenn Pferde eintrafen, ein Nachschub von außen oder solche, die für
einige Tage Pflege herabgeholt worden waren: sie standen dann in Gruppen
auf der Wiese oder legten sich nieder, aber sie gruppierten sich immer
irgendwie scheinbar regellos in die Tiefe, so daß es nach einem geheim
verabredeten ästhetischen Gesetz genau so aussah wie die Erinnerung an die
kleinen grünen, blauen und rosa Häuser unter dem Selvot. Wenn sieaber oben
waren und die Nacht über in irgend einem Bergkessel angebunden standen, zu
je dreien oder vieren an einem umgelegten Baum, und man war um drei Uhr
im Mondlicht aufgebrochen und kam jetzt um halb fünf des Morgens vorbei,
dann schauten sich alle nach dem um, der vorbeiging, und man fühlte in dem
wesenlosen Frühmorgenlicht sich als einen Gedanken in einem sehr
langsamen Denken. Da Diebstähle und mancherlei Unsicheres vorkamen,
hatte man rings in der Umgebung alle Hunde aufgekauft, um sie zur
Bewachung zu benützen. Die Streiftrupps brachten sie in großen Rudeln
herbei, zu zweit oder dritt an Stricken geführt ohne Halsband. Das waren nun
mit einemmal ebensoviel Hunde wie Menschen am Ort, und man mochte sich
fragen, welche von beiden Gruppen sich eigentlich auf dieser Erde als Herr
im eigenen Hause fühlen dürfe, und welche nur als angenommener
Hausgenosse. Es waren vornehme Jagdhunde darunter, venezianische
Bracken, wie man sie in dieser Gegend noch zuweilen hielt, und bissige
Hausköter wie böse kleine Affen. Sie standen in Gruppen, die sich, man
wußte nicht warum, zusammengefunden hatten und fest zusammenhielten,
aber von Zeit zu Zeit fielen sie in jeder Gruppe wütend übereinander her.
11
zurück zum
Buch Grigia"
Grigia
- Titel
- Grigia
- Autor
- Robert Musil
- Datum
- 1924
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 21
- Kategorien
- Weiteres Belletristik