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Manche waren halbverhungert, manche verweigerten die Nahrung; ein kleiner
weißer fuhr dem Koch an die Hand, als er ihm die Schüssel mit Fleisch und
Suppe hinstellen wollte, und biß ihm einen Finger ab. – Um halb vier Uhr des
Morgens war es schon ganz hell, aber die Sonne war noch nicht zu sehen.
Wenn man da oben am Berg an den Malgen vorbeikam, lagen die Rinder auf
den Wiesen in der Nähe halb wach und halb schlafend. In mattweißen
steinernen großen Formen lagen sie auf den eingezogenen Beinen, den Körper
hinten etwas zur Seite hängend; sie blickten den Vorübergehenden nicht an,
noch ihm nach, sondern hielten das Antlitz unbewegt dem erwarteten Licht
entgegen, und ihre gleichförmig langsam mahlenden Mäuler schienen zu
beten. Man durchschritt ihren Kreis wie den einer dämmrigen erhabenen
Existenz, und wenn man von oben zurückblickte, sahen sie wie weiß
hingestreute stumme Violinschlüssel aus, die von der Linie des Rückgrats, der
Hinterbeine und des Schweifs gebildet wurden. Überhaupt gab es viel
Abwechslung. Zum Beispiel, es brach einer ein Bein und zwei Leute trugen
ihn auf den Armen vorbei. Oder es wurde plötzlich »Feu… er« gerufen, und
alles lief, um sich zu decken, denn für den Wegbau wurde ein großer Stein
gesprengt. Ein Regen wischte gerade mit den ersten Strichen naß über das
Gras. Unter einem Strauch am andern Bachufer brannte ein Feuer, das man
über das neue Ereignis vergessen hatte, während es bis dahin sehr wichtig
gewesen war; als einziger Zuseher stand daneben jetzt nur noch eine junge
Birke. An diese Birke war mit einem in der Luft hängenden Bein noch das
schwarze Schwein gebunden; das Feuer, die Birke und das Schwein sind jetzt
allein. Dieses Schwein hatte schon geschrien, als es ein einzelner bloß am
Strick führte und ihm gut zusprach, doch weiter zu kommen. Dann schrie es
lauter, als es zwei andre Männer erfreut auf sich zurennen sah. Erbärmlich, als
es bei den Ohren gepackt und ohne Federlesens vorwärtsgezerrt wurde. Es
stemmte sich mit den vier Beinen dagegen, aber der Schmerz in den Ohren
zog es in kurzen Sprüngen vorwärts. Am andern Ende der Brücke hatte schon
einer nach der Hacke gegriffen und schlug es mit der Schneide gegen die
Stirn. Von diesem Augenblick an ging alles viel mehr in Ruhe. Beide
Vorderbeine brachen gleichzeitig ein, und das Schweinchen schrie erst wieder,
als ihm das Messer schon in der Kehle stak; das war zwar ein gellendes,
zuckendes Trompeten, aber es sank gleich zu einem Röcheln zusammen, das
nur noch wie ein pathetisches Schnarchen war. Das alles bemerkte Homo zum
erstenmal in seinem Leben.
Wenn es Abend geworden war, kamen alle im kleinen Pfarrhof zusammen,
wo sie ein Zimmer als Kasino gemietet hatten. Freilich war das Fleisch, das
nur zweimal der Woche den langen Weg heraufkam, oft etwas verdorben, und
man litt nicht selten an einer mäßigen Fleischvergiftung. Trotzdem kamen
alle, sobald es dunkel wurde, mit ihren kleinen Laternen die unsichtbaren
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Buch Grigia"
Grigia
- Titel
- Grigia
- Autor
- Robert Musil
- Datum
- 1924
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 21
- Kategorien
- Weiteres Belletristik