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Wege dahergestolpert. Denn sie litten noch mehr als an Fleischvergiftung an
Traurigkeit und Öde, obgleich es so schön war. Sie spülten es mit Wein aus.
Eine Stunde nach Beginn lag in dem Pfarrzimmer eine Wolke von Traurigkeit
und Tanz. Das Grammophon räderte hindurch wie ein vergoldeter
Blechkarren über eine weiche, von wundervollen Sternen besäte Wiese. Sie
sprachen nichts mehr miteinander, sondern sie sprachen. Was hätten sie sich
sagen sollen, ein Privatgelehrter, ein Unternehmer, ein ehemaliger
Strafanstaltsinspektor, ein Bergingenieur, ein pensionierter Major? Sie
sprachen in Zeichen – mochten das trotzdem auch Worte sein: des
Unbehagens, des relativen Behagens, der Sehnsucht –, eine Tiersprache. Oft
stritten sie unnötig lebhaft über irgendeine Frage, die keinen etwas anging,
beleidigten einander sogar, und am nächsten Tag gingen Kartellträger hin und
her. Dann stellte sich heraus, daĂź eigentlich ĂĽberhaupt niemand anwesend
gewesen war. Sie hatten es nur getan, weil sie die Zeit totschlagen muĂźten,
und wenn sie auch keiner von ihnen je wirklich gelebt hatte, kamen sie sich
doch roh wie die Schlächter vor und waren gegeneinander erbittert.
Es war die ĂĽberall gleiche Einheitsmasse von Seele: Europa. Ein so
unbestimmtes Unbeschäftigtsein, wie es sonst die Beschäftigung war.
Sehnsucht nach Weib, Kind, Behaglichkeit. Und zwischendurch immer von
neuem das Grammophon. Rosa, wir fahr’n nach Lodz, Lodz, Lodz… und
Komm in meine Liebeslaube… Ein astraler Geruch von Puder, Gaze, ein
Nebel von fernem Varieté und europäischer Sexualität. Unanständige Witze
zerknallten zu Gelächter und fingen alle immer wieder mit den Worten an: Da
ist einmal ein Jud auf der Eisenbahn gefahren… ; nur einmal fragte einer:
Wieviel Rattenschwänze braucht man von der Erde zum Mond? Da wurde es
sogar still, und der Major ließ Tosca spielen und sagte, während das
Grammophon zum Loslegen ausholte, melancholisch: »Ich habe einmal die
Geraldine Farrar heiraten wollen.« Dann kam ihre Stimme aus dem Trichter
in das Zimmer und stieg in einen Lift, diese von den betrunkenen Männern
angestaunte Frauenstimme, und schon fuhr der Lift mit ihr wie rasend in die
Höhe, kam an kein Ziel, senkte sich wieder, federte in der Luft. Ihre Röcke
blähten sich vor Bewegung, dieses Auf und Nieder, dieses eine Weile lang
angepreĂźt Stilliegen an einem Ton, und wieder sich Heben und Sinken, und
bei alldem dieses Verströmen, und immer doch noch von einer neuen
Zuckung Gefaßtwerden, und wieder Ausströmen: war Wollust. Homo fühlte,
es war nackt jene auf alle Dinge in den Städten verteilte Wollust, die sich von
Totschlag, Eifersucht, Geschäften, Automobilrennen nicht mehr
unterscheiden kann, – ah, es war gar nicht mehr Wollust, es war
Abenteuersucht, – nein, es war nicht Abenteuersucht, sondern ein aus dem
Himmel niederfahrendes Messer, ein WĂĽrgengel, Engelswahnsinn, der Krieg?
Von einem der vielen langen Fliegenpapiere, die von der Decke herabhingen,
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Buch Grigia"
Grigia
- Titel
- Grigia
- Autor
- Robert Musil
- Datum
- 1924
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 21
- Kategorien
- Weiteres Belletristik