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mußte selbst erst lang nachdenken, bis er soviel aus ihr herausfragen konnte,
um zu erraten, daß hier vor zweihundert Jahren auch französische
Bergknappen gelebt hatten, und daß es einmal vielleicht excuse geheißen
habe. Aber es konnte auch etwas Seltsameres sein.
Man mag das nun stark empfinden oder nicht. Man mag Grundsätze haben,
dann ist es nur ein ästhetischer Scherz, den man eben mitnimmt. Oder man
hat keine Grundsätze oder sie haben sich vielleicht eben etwas gelöst, wie es
bei Homo der Fall war, als er reiste, dann kann es geschehen, daß diese
fremden Lebenserscheinungen Besitz von dem ergreifen, was herrenlos
geworden ist. Sie gaben ihm aber kein neues, von Glück ehrgeizig und erdfest
gewordenes Ich, sondern sie siedelten nur so in zusammenhanglos schönen
Flecken im Luftriß seines Körpers. Homo fühlte an irgend etwas, daß er bald
sterben werde, er wußte bloß noch nicht, wie oder wann. Sein altes Leben war
kraftlos geworden; es wurde wie ein Schmetterling, der gegen den Herbst zu
immer schwächer wird.
Er sprach manchmal mit Grigia davon; sie hatte eine eigene Art, sich
danach zu erkundigen: so voll Respekt wie nach etwas, das ihr anvertraut war,
und ganz ohne Selbstsucht. Sie schien es in Ordnung zu finden, daß es hinter
ihren Bergen Menschen gab, die er mehr liebte als sie, die er mit ganzer Seele
liebte. Und er fühlte diese Liebe nicht schwächer werden, sie wurde stärker
und neuer; sie wurde nicht blasser, aber sie verlor, je tiefer sie sich färbte,
desto mehr die Fähigkeit, ihn in der Wirklichkeit zu etwas zu bestimmen oder
an etwas zu hindern. Sie war in jener wundersamen Weise schwerlos und von
allem Irdischen frei, die nur der kennt, welcher mit dem Leben abschließen
mußte und seinen Tod erwarten darf; war er vordem noch so gesund, es ging
damals ein Aufrichten durch ihn wie durch einen Lahmen, der plötzlich seine
Krücken fortwirft und wandelt.
Das wurde am stärksten, als die Heuernte kam. Das Heu war schon gemäht
und getrocknet, mußte nur noch gebunden und die Bergwiesen
hinaufgeschafft werden. Homo sah von der nächsten Anhöhe aus zu, die wie
ein Schaukelschwung hoch und weit davon losgehoben war. Das Mädel formt
– ganz allein auf der Wiese, ein gesprenkeltes Püppchen unter der ungeheuren
Glasglocke des Himmels – auf jede nur erdenkliche Weise ein riesiges
Bündel. Kniet sich hinein und zieht mit beiden Armen das Heu an sich. Legt
sich, sehr sinnlich, auf den Bauch über den Ballen und greift vor sich an ihm
hinunter. Legt sich ganz auf die Seite und langt nur mit einem Arm, soweit
man ihn strecken kann. Kriecht mit einem Knie, mit beiden Knien hinauf.
Homo fühlt, es hat etwas vom Pillendreher, jenem Käfer. Endlich schiebt sie
ihren ganzen Körper unter das mit einem Strick umschlungene Bündel und
hebt sich mit ihm langsam hoch. Das Bündel ist viel größer als das bunte
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Buch Grigia"
Grigia
- Titel
- Grigia
- Autor
- Robert Musil
- Datum
- 1924
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 21
- Kategorien
- Weiteres Belletristik