Seite - 20 - in Grigia
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kleinen Kammer erweitete, machten sie halt und umarmten einander. Der
Boden unter ihren Füßen machte einen guten trockenen Eindruck, sie legten
sich nieder, ohne daß Homo das Zivilisationsbedürfnis empfunden hätte, ihn
mit dem Licht eines Streichholzes zu untersuchen. Noch einmal rann Grigia
wie weich trockene Erde durch ihn, fühlte er sie im Dunkel erstarren und steif
von Genuß werden, dann lagen sie nebeneinander und blickten, ohne
sprechen zu wollen, nach dem kleinen fernen Viereck, vor dem weiß der Tag
strahlte. In Homo wiederholte sich da sein Aufstieg hieher, er sah sich mit
Grigia hinter dem Dorf zusammenkommen, dann steigen, wenden und
steigen, er sah ihre blauen Strümpfe bis zu dem orangenen Saum unterm
Knie, ihren wiegenden Gang auf den lustigen Schuhen, er sah sie vor dem
Stollen stehen bleiben, sah die Landschaft mit dem kleinen goldenen Feld,
und mit einemmal gewahrte er in der Helle des Eingangs das Bild ihres
Mannes.
Er hatte noch nie an diesen Menschen gedacht, der bei den Arbeiten
verwendet wurde; jetzt sah er das scharfe Wilddiebsgesicht mit den dunklen
jägerlistigen Augen und erinnerte sich auch plötzlich an das einzigemal, wo er
ihn sprechen gehört hatte; es war nach dem Einkriechen in einen alten Stollen,
das kein anderer gewagt hatte, und es waren die Worte: »I bin von an
Spektakl in andern kemma; das Zruckkemma is halt schwer.« Homo griff
rasch nach seiner Pistole, aber im gleichen Augenblick war Lene Maria
Lenzis Mann verschwunden, und das Dunkel ringsum war so dick wie eine
Mauer. Er tastete sich zum Ausgang, Grigia hing an seinen Kleidern. Aber er
überzeugte sich sofort, daß der Fels, der davor gerollt worden war, weit
schwerer wog, als seine Kraft, ihn zu bewegen, reichte; er wußte nun auch,
warum ihnen der Mann so viel Zeit gelassen hatte, er brauchte sie selbst, um
seinen Plan zu fassen und einen Baumstamm als Hebel zu holen.
Grigia lag vor dem Stein auf den Knien und bettelte und tobte; es war
widerwärtig und vergebens. Sie schwur, daß sie nie etwas Unrechtes getan
habe und nie wieder etwas Unrechtes tun wolle, sie zeterte sogleich wie ein
Schwein und rannte sinnlos gegen den Fels wie ein scheues Pferd. Homo
fühlte schließlich, daß es so ganz in der Ordnung der Natur sei, aber er, der
gebildete Mensch, vermochte anfangs gar nichts gegen seine Ungläubigkeit
zu tun, daß wirklich etwas Unwiderrufliches geschehen sein sollte. Er lehnte
an der Wand und hörte Grigia zu, die Hände in den Taschen. Später erkannte
er sein Schicksal; traumhaft fühlte er es noch einmal auf ihn herabsinken,
tage-, wochen- und monatelang, wie eben ein Schlaf anheben muß, der sehr
lang dauert. Er legte sanft den Arm umGrigia und zog sie zurück. Er legte
sich neben sie und erwartete etwas. Früher hätte er wohl vielleicht gedacht,
die Liebe müßte in solchem unentrinnbaren Gefängnis scharf wie Bisse sein,
aber er vergaß überhaupt an Grigia zu denken. Sie war ihm entrückt oder er
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Buch Grigia"
Grigia
- Titel
- Grigia
- Autor
- Robert Musil
- Datum
- 1924
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 21
- Kategorien
- Weiteres Belletristik