Seite - 486 - in Handbuch der Ornamentik - Zum Gebrauch für Musterzeichner, Architekten, Schulen und Gewerbetreibende sowie zum Studium im Allgemeinen
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-IR6 Zierschränke.
c. Schrankmöbel.
Zierschränke. (Tafel 253.)
Schrankmöbel waren im Altertum offenbar eine seltene Er-
scheinung. Die Ägypter, die Griechen kannten sie wohl gar nicht;
die Römer scheinen einfache, zweithürige Schränke besessen zu haben,
wie sich aus vereinzelten Vasengemälden schliefsen läfst; jedenfalls
waren aber auch sie von keinerlei künstlerischer Bedeutung. Zweifel-
los fanden die Truhen, von denen später die Rede sein wird, sich
häufiger und ersetzten die Schränke. So war das auch im früheren
Mittelalter, wo sich wohl Schränke in Kirchen und Klöstern, kaum
aber im Privathaus finden; und wo sie sich finden, da zeigen sie eher
den Zimmermannsstil als den Charakter einer entwickelten Schreiner-
arbeit. „Der Grundzug des romanischen Möblements war Zweck-
mäfsigkeit: dafs es bei der Schwerfälligkeit und dem Ernst des ganzen
damaligen Lebens hierbei nicht auf Eleganz ankam, ist natürlich: die
Menschen hatten ihre Tugenden und Laster, aber keine Nerven, keine
Migräne." (Georg Hirth.) Häufiger werden die Schränke in der
gotischen Periode, und wenn auch diesen Erzeugnissen mit der ge-
spundeten Arbeit und den einfachen Schnitzereien ein gewisses grobes
und gar zu monumentales Aussehen eigen zu sein pflegt, so wird doch
durch die architektonischen Gliederungen, durch das Anbringen sicht-
barer Bänder und Schlofsbeschläge etc., ein gewisser Effekt erreicht.
Die Spätgotik mit ihren schematischen Prinzipien führte zu allerlei
Übertreibungen, deren eine das Überwuchern des geometrischen Mafs-
werkes ist (der flammenartigen Fischblasenornamente halber als „flam-
boyante" bezeichnet). Der Umwälzungsprozefs, der den Übergang
von der Gotik zur Renaissance kennzeichnet, äufsert sich auf dem
Gebiete der Schrankmöbel in der ausgesprochensten Weise. Georg
Hirth, der bereits oben zitiert wurde, schildert das Wiederaufleben der
Ornamentik in der Übergangsepoche mit folgenden Worten: „In ihren
(der Holzschnitzer, Schreiner u. s. w.) Händen verwandelte sich der
scharfkantige Stab in den lebendigen Rebenstock, das steinerne Blatt-
werk des Münsters ward in lebensvolle Blumen und reich geschwungene
Zweige umgestaltet, mit der erstaunlichsten Virtuosität den verschie-
densten Materialien abgerungen. Im Gegensatze zu den zwar
genialen und phantasiereichen, aber strengen Schöpfungen der gotischen
Bauhütte erscheint sie (die Kunstentfaltung auf ornamentalem Gebiete)
mir als malerische Revolution, als germanischer Lerchengesang im
Morgenrot eines neuen Menschheitstages. Ein Frühlingsläuten ging
vom Niederrhein bis zu unsern schneebedeckten Bergriesen, ein starkes
Rufen nach der Allmutter Natur, nach der Freiheit des Herzens und
der Einbildungskraft, ünd dazu nun die ganze kindliche Naivetät,
die ganze gottvertrauende Hoffnungsseligkeit dieser bescheidenen
Handbuch der Ornamentik
Zum Gebrauch für Musterzeichner, Architekten, Schulen und Gewerbetreibende sowie zum Studium im Allgemeinen
- Titel
- Handbuch der Ornamentik
- Untertitel
- Zum Gebrauch für Musterzeichner, Architekten, Schulen und Gewerbetreibende sowie zum Studium im Allgemeinen
- Herausgeber
- Franz Sales Meyer
- Ort
- Leipzig
- Datum
- 1937
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 9.6 x 15.7 cm
- Seiten
- 628
- Kategorie
- Kunst und Kultur