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IV.2. Gesellen und Gesellenschaften 83
geprägten Begriff „Gesellengilde“ und mahnt, die Organisationsformen der Gesellen
nicht über einen Kamm zu scheren. Schulz adaptiert das zentrale Element im Erklärungs-
modell von Schanz, die „Doppelgenossenschaft“, spricht sich erneut vornehmlich für eine
Trennung von weltlichen und religiösen Verbänden der Gesellen aus und erkennt die re-
ligiös-karitativ orientierte Bruderschaft – so wie Schanz – als ältere Form in den oberrhei-
nischen Städten an, wenngleich er eingesteht, dass auch Beispiele von Gesellenschaften in
den Quellen fassbar sind, die beide Aspekte in einer Organisation vereinen474.
Schulz sieht drei Komponenten, welche die Entstehung von Gesellenschaften seit
dem letzten Drittel des 14. Jahrhunderts bedingten und sich gegenseitig beeinflussten. Im
Gegensatz zu Reininghaus bringt Schulz verstärkt die politischen Entwicklungen in den
oberrheinischen Städten in die Diskussion ein. Seit den dreißiger Jahren des 14. Jahrhun-
derts sei es in nahezu allen von ihm untersuchten Städten – wie Basel, Colmar, Freiburg
im Breisgau und Straßburg – zu einer verstärkten politischen Einflussnahme der Zünfte
zu Ungunsten der bisher etablierten, politisch dominierenden Geschlechter gekommen.
Die Gesellen seien aber davon ausgeschlossen geblieben und hätten eine „Sonderrolle“
innerhalb der Stadt und außerhalb der „Zunftverfassung“ erhalten, wobei genau diese
Unabhängigkeit von den meisten Gesellen auch angestrebt worden sei475.
Als zweite Komponente gibt Schulz die im ausgehenden 14. Jahrhundert verstärkt
auftretende Gesellenwanderschaft an, die eine dementsprechende Organisation der vor-
wiegend überaus mobilen Gesellen in der Stadt erfordert habe476. Begünstigt sei diese
zunehmende Mobilität der Gesellen durch einen guten Konjunkturverlauf gewesen, in
dessen Folge die Nachfrage nach Gesellen aufgrund des durch mehrere Pestwellen beding-
ten Arbeitskräftemangels in den oberrheinischen Städten um 1400 deutlich angestiegen
sei. Durch diese verstärkte Nachfrage hätten auch das Selbstwertgefühl der Gesellen und
deren Bewusstsein als Gruppe zugenommen477. In Summe ergibt sich für Schulz also eine
„Trias von Verfassungswandel, Wanderwesen und Konjunkturverlauf“478, die als entschei-
dender Motor für die Entwicklung von Gesellenschaften fungierte. Durch die fehlende
politische und soziale Integration der Gesellen in die Stadt, ergänzt durch die wirtschaft-
lichen Komponenten, seien so selbstbewusste Gesellengruppen entstanden, die sich selbst
organisieren hätten müssen, um ihre religiösen, karitativen und wirtschaftlichen Ziele
gegenüber den Meistern und der Obrigkeit durchzusetzen.
Dem Modell von Schulz wird in der jüngeren Forschung vor allem entgegengehalten,
dass Gesellenschaften auch in Städten entstanden, in denen es keine Zunftverfassung gab,
die Handwerker politisch also kaum eine Rolle spielten479. Trotz allem kann die man-
gelnde soziale Integration, die Sonderstellung und scheinbare Nichtkontrollierbarkeit der
Gesellen, die Schulz als eine der Wurzeln von Gesellenvereinigungen erkennt, kaum über-
sehen werden.
zur Dissertation von Reininghaus spürbar, siehe dazu Schulz, Neue Studien passim. Zu der angesprochenen
Diskussion siehe Reininghaus’ Rezension der Arbeit von Schulz: Reininghaus, Methodik passim, und die
entsprechende Antwort: Schulz, Bemerkungen passim.
474 Schulz, Handwerksgesellen 164–171; ders., Bemerkungen 359f.
475 Schulz, Handwerksgesellen 444f.
476 Ebd. 445f.
477 Ebd. 447f.
478 Ebd. 448.
479 Kluge, Zünfte 202.
Das Wiener Handwerksordnungsbuch
(1364–1555)
- Titel
- Das Wiener Handwerksordnungsbuch
- Untertitel
- (1364–1555)
- Autor
- Markus Gneiß
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20418-3
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 674
- Schlagwörter
- Late Medieval Vienna, Craft ordinances, Craftsmen, Late Medieval Urban Administration, Commented Edition, Wien im Spätmittelalter, Handwerksordnungen, Handwerker, Spätmittelalterliche Stadtverwaltung, Kommentierte Edition
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen