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84 IV. Inhaltliche Aspekte
IV.2.2.4. Gesellenschaften als „Jugendbewegung“
Erst kürzlich versuchte Arnd Kluge die unterschiedlichen Erklärungsansätze für die
Entstehung der Gesellenschaften in einem vorwiegend lebenszyklischen Modell zu ver-
einen. Kluge lehnt zwar weder die Ansätze von Reininghaus noch von Schulz völlig ab,
sieht aber als Hauptfaktor der Entstehung von Gesellenschaften vor allem die Entwick-
lung einer eigenen Jugendkultur innerhalb des Handwerks einer Stadt480. Die „Erfindung
des Gesellen“ durch die Zünfte, die Etablierung des Gesellen im Arbeitsleben der Städte,
habe in Kombination mit der Wanderschaft eine „Jugendbewegung“ unter den meist un-
gebundenen Männern hervorgerufen. Für die Gesellen, die oft nur wenige Wochen an
einem Ort verweilten, sei die Gesellenschaft, die sich mit der Zunahme des Wanderwe-
sens im ausgehenden 14. Jahrhundert etabliert habe, die soziale Absicherung in einem
ansonsten unsteten Leben gewesen: Sie habe das Wanderwesen organisiert und für eine
Entlastung der Obrigkeit sowie der Meister gesorgt, indem sie beispielsweise Wohnmög-
lichkeiten für die zugewanderten Gesellen geboten und sich um karitativ-religiöse As-
pekte im Leben der Gesellen gekümmert habe. Wenn es notwendig gewesen sei, dann sei
die Gesellenschaft auch als nicht zu unterschätzendes Kampfmittel gegen die Meister und
die Stadtvorsteher eingesetzt worden481.
IV.2.2.5. Die Anfänge der Gesellenschaften in Wien
Im Unterschied zu den in den vorangehenden Abschnitten angesprochenen oberrhei-
nischen Städten kann für das Wien des 14. Jahrhunderts keine eigenständige Gesellen-
schaft nachgewiesen werden. Relativ früh – im Jahre 1340 – sind im Bereich des Wiener
Schneiderhandwerks bereits Gesellen, damals noch durchgehend knechte genannt, zu
finden. In der Schneiderordnung Albrechts II. verbietet der Herzog den Gesellen, einen
Meister vierzehn Tage vor einem Feiertag zu verlassen; wenn diese das trotzdem tun, dann
sollen sie innerhalb eines Jahres bei keinem anderen Meister mehr aufgenommen werden,
außer mit ausdrücklicher Zustimmung des Meisters, bei dem sie zuvor gedient haben482.
Die Gesellen hatten damals jedoch noch keine eigenständige, von den Meistern getrennte
Organisation, wie gemeinsame Verfügungen zur Neuaufnahme in die Zeche ebenso wie
das Verbot von Absprachen in wirtschaftlicher Hinsicht, sogenannten Einungen (ainung),
zeigen483.
In einer ähnlichen Rechtsposition wie 1340 lassen sich die Schneidergesellen in der
nur mehr abschriftlich erhaltenen Ordnung von 1369 finden484. Erneut scheinen sie als
eng an den Meister gebundene Gruppe auf, teilweise werden die Bestimmungen der Ord-
nung von 1340 auch wiederholt485. Es überrascht nicht, dass gerade bei den Schneidern
schon relativ früh die Arbeitskraft von Gesellen benötigt worden ist, hängt dies doch mit
480 Ebd. 203.
481 Ebd. 210f.
482 Rechte und Freiheiten 1, ed. Tomaschek 117 Nr. XXXVIII: Und welher sneiderchnecht von ainem
maister schaidet vor ainer hochzeit vierzehen tag, den sol chain maister behalten in jarsfrist, es sei denn des willen,
dem er gedint hat; und wer dawider tet und des mit zwein glaubheftigen mannen uberwert wuerd, der ist vervallen
des grazzen wandels. Siehe zu dieser Ordnung auch oben S. 24.
483 Ebd. 118 Nr. XXXVIII.
484 WStLA, H. A.-Urk.-Abschr. Nr. IX. Siehe dazu auch oben S. 27f.
485 Siehe auch Uhlirz, Gewerbe 714f.
Das Wiener Handwerksordnungsbuch
(1364–1555)
- Titel
- Das Wiener Handwerksordnungsbuch
- Untertitel
- (1364–1555)
- Autor
- Markus Gneiß
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20418-3
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 674
- Schlagwörter
- Late Medieval Vienna, Craft ordinances, Craftsmen, Late Medieval Urban Administration, Commented Edition, Wien im Spätmittelalter, Handwerksordnungen, Handwerker, Spätmittelalterliche Stadtverwaltung, Kommentierte Edition
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen