Seite - 719 - in Handwörterbuch der Philosophie
Bild der Seite - 719 -
Text der Seite - 719 -
Vermutung — Vernunft.
Vermutung s. Konjektur.
Verneinung s. Negation, Position, Pessimismus.
Vernunft (von vernehmen; vovg, Xoyog, intellectus, ratio)
deutet: 1. allgemein: Geist, Intellekt (s. d.); 2. im Unterschiede vom Verstand
(s. d.) die Fähigkeit umfassender, auf höchste Einheit der Erkenntnis und des-
Handelns gerichteter Geistestätigkeit, deren Produkte, die Ideen (s. d.),
Mannigfaltige der Erfahrung und Verstandeserkenntnis zur Synthesis
fassendster Zusammenhänge verknüpfen. Je nach dem Material der
dem Zielpunkt der Tätigkeit ist die V. theoretische oder praktische V.;
in beiden Richtungen der V. ist schon der Wille, als Vernunftwille, wirk-
sam (s. Einheit). Die V. im weiteren Sinne ist eine Quelle apriorischer (s. d.)
Begriffe und Grundsätze. Erkenntnistheoretisch ist aber unter V. nicht
eine seelische Kraft zu verstehen, sondern der Inbegriff geistiger
durch welche die Erkenntnis ihre Grundlagen und ihre Zusammenhänge erhält,
oder — rein logisch („transzendental") — der Inbegriff der Geltungen, Setzungen
(Begriffs- und Urteilsinhalte), welche die Voraussetzungen objektiven
zusammenhanges bilden. Diese Funktionen, Setzungen und Geltungen stellen,
abstrakt betrachtet, die „reine Vernunft" dar (s. Subjekt). — In das Gebiet
der V. fällt auch die Erkenntnis und Ermittelung Richtigen, des
mäßigen. Vernünftig ist, insofern, das Sinn- und Zweckvolle als
durch V. Geforderte, das Logische im weiteren Sinne. Unter objektiver
V. ist der innere Zusammenhang des Geschehens, die
Struktur des Seins zu verstehen. Es besteht in der geistigen kulturellen Ent-
wicklung die Tendenz, das Gegebene immer mehr vernünftig zu gestalten, es»
nach Grundsätzen der V. zu ordnen, zu regeln, Widerspruchsvolles und Ein-
seitiges zu beseitigen, in höheren Formen (vgl. Aktivismus,.
Kultur, Ideal, Voluntarismus, Wille).
Vielfach wird unter V. ein höheres, auf das Übersinnliche
Geistesvermögen verstanden, meist jedenfalls ein solches, welches den Menschen
von den Tieren unterscheidet, als Fähigkeit, logisch zusammenhängend zu
denken, zu schließen, besonnen und zweckbewußt zu handeln. So nach ARIS-
TOTELES Intellekt, Seele), welcher theoretische und praktische V. (vovg
De anima III 10, 433 a 15) unterscheidet, CICERO (De I, 10;.
De finibus II, 14, 45 f.). Die betrachten die „rechte Vernunft"
„recta ratio") als Quelle der Wahrheit (vgl. SENECA, Epist.
auch gibt es ihnen (wie nach eine Weltvernunft (s. Logos,.
Sittlichkeit).
In der mittelalterlichen Philosophie gilt die V. als Vermögen übersinnlicher
Erkenntnis (AUGUSTINUS, De trinit. XII, 12, 17). Doch wird dieses Vermögen
oft nicht als „ratio", sondern als „intellectus" oder „intelligentia" bezeichnet
und von dem diskursiven (s. d.), begrifflich-schließenden Denken („ratio")
schieden (JOH. SCOTUS ERIUGENA, De divis. natur. II, 23; R. ST. VIC-
TOR, De contemplat. III 19; JOH. VON SALESBURY, Metalog. IV, 18 u.
später auch NICOLAUS CARDANUS U. a). Nach THOMAS VON
AQUINO bezieht sich der auf die unmittelbare Erfassung der
Wahrheiten, die „ratio" auf das diskursive, schließende Ermitteln von Wahr-
heiten („Intellectus sumitur ab penetratione veritatis,
rationis ab et Sum. theol. IL II, 49, 5 ad 3).
zurück zum
Buch Handwörterbuch der Philosophie"
Handwörterbuch der Philosophie
- Titel
- Handwörterbuch der Philosophie
- Autor
- Rudolf Eisler
- Verlag
- ERNST SIEGFRIED MITTLER UND SOHN
- Ort
- Berlin
- Datum
- 1913
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- Abmessungen
- 12.7 x 21.4 cm
- Seiten
- 807
- Schlagwörter
- Philosophie, Geisteswissenschaften, Objektivismus
- Kategorie
- Geisteswissenschaften