Seite - 723 - in Handwörterbuch der Philosophie
Bild der Seite - 723 -
Text der Seite - 723 -
Verstand.
zeugenden, bedingenden Funktionen, Gesetze und Geltungen (Grundbegriffe,
Grundsätze; s. Vernunft).
V. und Vernunft unterscheidet schon PLATON (Phaedo, 189 D f. 1, 83 B;
Theaetet 160 D, 185 A; Phaedr. 247 C; Republ. 511 D, 533 D). ARISTOTELES
unterscheidet tätigen und leidenden V. (s. Intellekt). In der mittelalterlichen
Philosophie wird das, was jetzt gewöhnlich als V. bezeichnet wird, der „ratio"
zugeschrieben (s. Vernunft); auch nach NICOLAUS CUSANUS ist die „ratio"
diskursiv (s. d.), nicht wie die „intelligentia" zur Überwindung der Gegensätze
contradictoria") fähig (De coniectur. I, 11; II, 16). — Nach THO-
MAS VON AQUINO U. a. ist der V. (intellectus) die unmittelbare Ermittlung
von Wahrheiten (s. Vernunft). — Nach LEIBNIZ, CHR. WOLFF
Gedanken von den Kräften des menschL Verstandes, S. 23) ist der V. das
Vermögen, deutlich vorzustellen, deutliche Begriffe zu haben (Psychol. rational.
§ 64, 387; der „reine" V. ist das vom Sinnlichen freie Denken).
KANT stellt den V. als aktive Geistestätigkeit der Sinnlichkeit und An-
schauung (s. d.) gegenüber (s. Spontaneität), als „Vermögen, Vorstellungen
selbst hervorzubringen". Der V. ist das „Vermögen zu urteilen". Der „reine"
V. ist die Quelle apriorischer Begriffe (Kategorien) und Grundsätze (s. Axiom)
als Grundlagen der Erfahrung und ihrer Objekte. Er ist so ein „formales
und synthetisches Prinzipium aller Erfahrungen", durch seine Synthesis (s. d.)
kommt es erst zu objektiven Erfahrungsznsammenhängen. Als „Vermögen der
Regeln" bringt der V. erst Ordnung (s. d.) und Gesetzlichkeit in die Er-
fahrung, er ist so der „Gesetzgeber der Natur" (s. Gesetz, Regel). Der „ge-
sunde Menschenverstand" reicht für die Philosophie nicht aus. Sinnlichkeit
und V. haben vielleicht nur eine Wurzel.
Gegen die „Reflexionsphilosophie" (s. d.) des abstrahierenden, ver-
einzelnden einseitigen Verstandes wenden sich HAMANN, JACOBI,
SCHELLING (vgl. WW. I 4, 299 ff.; s. Vernunft) und HEGEL (dieser auch
gegen KANT, JACOBI U. a.), nach welchem die Vernunft (s. d.) die Ein-
seitigkeiten, Abstraktheiten und Gegensätze, die der
V. fixiert, überwindet (Enzyklop. § 80, 422, 467; vgl. WW. I, 4, 25, 72,
ff.; II, 11, 53 III, V, 115; XIV, 6 f.; 116). Als „fixieren-
des" Vermögen betrachtet die V. FICHTE. Der V. ist „ein ruhendes untätiges
Vermögen" (Gr. der gesamten S. 201 f.; vgl. WW. II,
29 f., 40).
Als anschauliche Erkenntnis bestimmt den V. SCHOPENHAUER als
Wille und I, § 8; vgl. Anschauung). Nach HERBART ist der V. die
Fähigkeit, „sich im Denken nach der Qualität des Gedachten zu richten"
(Psychol. II, § nach HÖFLER U. a. „Befähigung zu richtigen Urteilen"
(Psychol., 1897, S. 260). Nach WUNDT ist er die Fähigkeit, „die Gegen-
stände und ihre Beziehungen durch Begriffe zu denken" (System d. Philos. I3,
1907, S. 206 ff.).
BERGSON stellt den, praktischen Zwecken, dem Handeln dienenden, das
stetige Werden analysierenden, in homogene, statische Elemente gliedernden,
verräumlichenden, geometrisierenden V. dem „Instinkt" und
der „Intuition" (s. d.) gegenüber. Der V. ist aus einer Anpassung an die
materielle, mechanisch gewordene Richtung der Entwicklung entstanden und
erfaßt nur diese Stufe oder Seite des Wirklichen adäquat, nicht das lebendige
Werden, die schöpferische Entwicklung (s. d.), das „Leben" (s. d.), die Un-
zurück zum
Buch Handwörterbuch der Philosophie"
Handwörterbuch der Philosophie
- Titel
- Handwörterbuch der Philosophie
- Autor
- Rudolf Eisler
- Verlag
- ERNST SIEGFRIED MITTLER UND SOHN
- Ort
- Berlin
- Datum
- 1913
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- Abmessungen
- 12.7 x 21.4 cm
- Seiten
- 807
- Schlagwörter
- Philosophie, Geisteswissenschaften, Objektivismus
- Kategorie
- Geisteswissenschaften