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Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte, Band LIX
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überlegungen zu michelangelo als Holzbildhauer 59 glichen (Abb. 7). Die vom Lindenholzblock in erheblichem Umfang abgetragene Substanz läßt – erkennbar vor allem in der Profilansicht (Abb. 8) – die Figur ausschließlich aus dem Entfernen von Material entstehen (die gestreckten Arme wieder ausgenommen). Die geringen Maße des Kruzifix begünstigten eine solche Vorgehenswei- se. Auf jeden Fall liefert die Skulptur eine weitere Bestätigung dafür, daß Michelangelo sich dem Holzblock nicht anders näherte als dem Marmor- block, wobei ihm die in sich abgeschlossene Ein- heit der aus einem massiven Materialblock her- ausgearbeiteten Statue immer gegenwärtig war. Die Oberfläche des kleinen Kruzifix, sowohl des Körpers als insbesondere auch des Gesichts, läßt erkennen, daß noch eine weitere Behandlung mit dem Hohleisen und anschließend mit Schleif- werkzeug ausständig ist. Bei der Arbeit in Linden- holz ist solches möglich, da es auch im kleinen Format eine optimale Feinbearbeitung erlaubt. Was den Zweck der Statuette angeht, so glau- be ich im Gegensatz zu Tolnay und Shell nicht, daß es sich um das Modell für ein überlebens- großes Holzkruzifix handelt.25 Vielmehr war das kleine Kruzifix wohl zum Gebrauch bei der pri- vaten Andacht bestimmt. Wie die Briefe vom 1. August 1562 und 17 Juli 1563 zeigen, wurde das Werk sehr langsam ausgeführt; Michelangelos Tod dürfte der Grund gewesen sein, daß es unvollendet blieb, so jedenfalls Acidinis Hypo- these.26 Höchstwahrscheinlich war das Werk für den Neffen Leonardo bestimmt, was den intimen Gebrauchszweck bestätigen würde: Im Brief vom 17. Juli 1563 schreibt Tiberio Calcagni aus Rom an Leonardo Buonarroti, Michelangelo arbeite sopra a’ vostro Cristo di legniame.27 Janice Shells Überzeugung, es handle sich um ein Modell, gründet auf der in den Briefen erwähn- ten Vielfalt des Handwerkzeugs (tuti queli feri), die auf eine hohe Komplexität der Arbeit verwei- se.28 Diese Annahme ist jedoch nicht überzeu- gend, zumal die Ausführung von Holzfiguren unabhängig von ihren Maßen immer die Ver- wendung von unterschiedlich großen Hohleisen oder anderen Werkzeugen notwendig macht, welche bei dem Werk der Casa Buonarroti, wie auf der Oberfläche unschwer zu sehen ist, reich- lich eingesetzt wurden. Auch die Auswahl des Lindenholzes (das anders als die Pappel wegen seiner spezifischen Zelleneigenschaften das Schneiden auch kleinster Details zuläßt) verweist auf die Absicht, ein autonomes Werk zu schaffen. Nur schwer vorstellbar erscheint die Bevorzu- gung dieser Holzart für eine Modellvorlage. 25 „The work can be dated in the summer of 1562, one and half years before Michelangelo’s death. In two letters of August 1 and 2, 1562, Michelangelo asked his nephew Lionardo in Florence to send him the wood and implements necessary to execute a larger than life-size wooden crucifix. This small carving seems to be a model precisely for this project“: C. de Tolnay, Michelangelo. Sculptor, Painter, Architect, Princeton 1975, S. 218–219. Schon zuvor erkann- te de Tolnay in dem kleinen Kruzifix aus der Casa Buonarroti eine Modellvorlage für eine größere Version in Holz, die er mit einigen Zeichnungen in Verbindung brachte: vgl. C. de Tolnay, Un bozzetto di legno di Michel angelo, in: Commentari 15, 1965, S. 93–97. Die kleine Statue gilt auch als Modell bei: P. J. Le Brooy, Michelangelo Mo- dels formerly in the Paul von Praun Collection, Vancouver 1972, S. 146. J. Shell, Katalogbeitrag Nr. 3–5, in: The Genius of the Sculptor in Michelangelo’s Work, Ausstellungskatalog, Montreal, Museum of Fine Arts, 12.06.1992– 13.08.1992, Montreal 1992, S. 270. 26 „Il piccolo Crocifisso nel Museo di Casa Buonarroti, rimasto incompiuto alla sua morte“: C. Acidini Luchinat, Michelangelo scultore, Mailand 2005, S. 33. 27 Barocchi/Loach Bramanti/Ristori, Il carteggio (zit. Anm. 22), S. 154. Schon O’Grody vermutete, das Holzkru- zifix, an dem Michelangelo im Juli 1563 arbeitete und dem dieses kleine unvollendete Exemplar als Entwurf gedient haben soll, sei für Leonardo Buonarroti bestimmt gewesen, vgl. J. A. O’grody, Michelangelo, Crocifisso, in: P. Ragionieri (Hrsg.), I bozzetti michelangioleschi della Casa Buonarroti, Florenz 2000, S. 64–66. 28 „No indication of the size of the projected work is offered in either missive, though the fact that the sculptor had need of a variety of tools may perhaps suggest that the crucifix was meant to be a complex work, large rather than small“, Shell, Kat. Nr. 3–5 (zit. Anm. 25), S. 270.
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Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte Band LIX
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
Titel
Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte
Band
LIX
Herausgeber
Bundesdenkmalamt Wien
Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien
Verlag
Böhlau Verlag
Ort
Wien
Datum
2011
Sprache
deutsch, englisch
Lizenz
CC BY-NC-ND 3.0
ISBN
978-3-205-78674-0
Abmessungen
19.0 x 26.2 cm
Seiten
280
Schlagwörter
research, baroque art, methodology, modern art, medieval art, historiography, Baraock, Methodolgiem, Kunst, Wien
Kategorie
Kunst und Kultur
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