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dem grundsätzlichen Interpretationsdilemma vor
Andy Warhols Werken und somit auch vor den
hier diskutierten Selbstbildnissen. Eine solche
Lesart bliebe letztlich auf ein motivisches Bild-
verständnis fixiert, das den Betrachter nicht in
das Bild-Dispositiv einbezieht.31 Warhols Wer- ke weisen nicht nur bezüglich des Verhältnisses
von Dargestelltem zu Darstellung tautologische
Strukturen auf, sondern bringen auch die Be-
trachter in eine tautologische, zirkuläre Situati-
on, in der sie Gefahr laufen, sich im Bild immer
nur narzißtisch selbst zu spiegeln.
DAS PARADOX DER VIELDEUTIGKEIT SINNENTLEERTER WERKE
In einem Aufsatz von 1948 zur „Ästhetische(n)
Mehrdeutigkeit“32 analysiert Ernst Kris deren
unterschiedliche Formen. Einem Typus spricht
er dabei rigoros die Möglichkeit stringenter, in-
tersubjektiv vermittelbarer Interpretation ab, da
Deutungen in solche Werke nur hineinprojiziert
werden. Kris nennt diesen Typus „projektive
Mehrdeutigkeit“, bei der die Reaktionen auf das
Kunstwerk allesamt mit den Interpreten wech-
seln. Kris geht sogar so weit, solchen Werken ei-
nen symbolischen Status abzusprechen, und dies
ist für ihn gleichbedeutend mit dem Verlust des
künstlerischen Status. Zu diesem Schluß kommt
er, da er von einem Kommunikationsmodell der
Kunst ausgeht, das auf einer zu vermittelnden
Botschaft basiert, wie vieldeutig diese auch sein
mag.33 Kris’ Kategorie der projektiven Mehrdeu-
tigkeit trifft auf Andy Warhols Werke und in
besonderem Maße auf die beiden diskutierten
Selbstbildnisse zu, doch geht dies nicht notwen- dig mit völliger Beliebigkeit einher. Anders als
Ernst Kris und auch Douglas Crimp, der mit
seinem Aufsatz „Getting the Warhol we deser-
ve“34 ebenfalls auf die Sinnoffenheit der Werke
Warhols eingeht, meine ich, daß, sobald projek-
tive Mehrdeutigkeit vom Künstler inszeniert wird,
die Problematik der Sinnentleerung und völligen
Sinnoffenheit auf eine Metaebene des Werkes ver-
schoben und damit reflektier- und kommunizier-
bar wird. Somit muß der Betrachter diese Werke
auch nicht zwangsläufig als Fetische wahrnehmen,
wie einige Interpreten im Anschluß an Baudrillard
annehmen,35 selbst wenn das Werk vollkommen
von dem, was man im klassischen Sinn als Gehalt
des Werkes bezeichnen würde, entleert ist und
sich das Künstlersubjekt, an das in der traditio-
nellen ästhetischen Theorie die Möglichkeit ästhe-
tischer Sinnstiftung und damit auch ästhetischer
Erfahrung gebunden ist, auflöst beziehungsweise
der Platz des Subjekts „leer“ gehalten wird.36
31 Und hiermit bliebe solch eine Lesart auch hinter den Auseinandersetzungen mit Warhols Werk von Rosalind Krauss
und Hal Foster zurück. Vgl. bes. R. Krauss, Körperliches Wissen, in: Francis, Andy Warhol (zit. Anm. 25), S.
102–107 und Foster, Death (zit. Anm. 29).
32 Kris befaßt sich hier mit dichterischer Mehrdeutigkeit, doch beanspruchen seine Ausführungen auch für andere
künstlerische Bereiche Gültigkeit. E. Kris/A. Kaplans, Ästhetische Mehrdeutigkeit, in: M. Curtius (Hrsg.), Se-
minar: Theorien der künstlerischen Produktivität. Entwürfe mit Beiträgen aus Literaturwissenschaft, Psychoanalyse
u. Marxismus, Frankfurt 1976, S. 92–116. Der Beitrag Aesthetic Ambiguity entstand 1948 und ist erstmals in Kris’
Aufsatzband Psychoanalytic Explorations in Art 1952 erschienen.
33 Vollkommene Sinnoffenheit, die mit Beliebigkeit einhergehe, markiert für Kris die Grenze des Ästhetischen. Hier
soll es nicht um eine Kritik an Kris sehr instruktiver Theorie zur ästhetischen Mehrdeutigkeit gehen, vielmehr inte-
ressiert die von ihm äußerst treffend analysierte Kategorie der projektiven Mehrdeutigkeit.
34 D. Crimp, Getting the Warhol we deserve, in: Texte zur Kunst 35, 9. Jg., 1999, S. 44–65.
35 So Thierry de Duve, De Duve, Andy Warhol (zit. Anm. 21), S. 3–14.
36 S. hierzu vor kurzem K. Theleweit, Einleitung, in: Goldsmith, Interviews (zit. Anm. 15), S. 14. Für Benjamin
Buchloh sind deshalb Warhols Pop-Ikonen der 1960er Jahre, welche die „Zerstörung der traditionellen, referen-
Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte
Band LIX
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte
- Band
- LIX
- Herausgeber
- Bundesdenkmalamt Wien
- Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch, englisch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78674-0
- Abmessungen
- 19.0 x 26.2 cm
- Seiten
- 280
- Schlagwörter
- research, baroque art, methodology, modern art, medieval art, historiography, Baraock, Methodolgiem, Kunst, Wien
- Kategorie
- Kunst und Kultur