Seite - 207 - in Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte, Band LIX
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In ihrem letzten Lebensjahr verfaßte die
Kunst-historikerin
Erica Tietze-Conrat (geb. am
20.6.1883 in Wien, gest. am 12.12.1958 in New
York),1 angeregt durch die Fragen ihrer ameri-
kanischen Studenten, eine Rückschau auf ihre
Studienzeit bei Franz Wickhoff (1853–1909) und
Alois Riegl (1858–1905), den bedeutendsten Per-
sönlichkeiten der „Wiener Schule der Kunstge-
schichte“. In diesen Erinnerungen bemühte sie
sich nicht nur um eine Kulturvermittlung für
ihre Schüler an der Columbia University, son-
dern auch um die eigene Verortung in einem
universitären System, in dem ihre Position als
Frau und Jüdin alles andere als selbstverständlich
gewesen war. Während sie ihre Kommilitonen
insgesamt distanziert und unpersönlich erinner-
te, bekräftigt die Auswahl jener Studienkollegen,
die ihr eine nähere Beschreibung wert schienen,
die tatsächliche Marginalisierung noch.
Es waren vor allem die intelligenten Querköp-
fe, die sich ihr eingeprägt hatten. Die Schilde-
rung der Eigenheiten ihrer Professoren sowie ih- rer eigenen Orientierungslosigkeit zu Beginn des
Studiums zielen ab auf eine Entmystifizierung
der unantastbaren Autorität des Lehrers und auf
eine Annerkennung der Leistungen und Schwie-
rigkeiten von Studierenden. Klar ist, daß dieser
unvollendete Bericht, der sich im Nachlaß von
Tietze-Conrats Sohn, Prof. Andreas Tietze, ge-
funden hat,2 in dieser Form noch nicht für eine
Publikation bestimmt gewesen sein kann. Ein-
zelne Auslassungen belegen, daß dieser Text, der
vermutlich aus dem Jahr 1958 stammt, noch ge-
prägt ist von Auswirkungen der Emigration. Dies
bedeutete, geistige Arbeit oftmals ohne Zugang
zu den notwendigen Quellen leisten zu müssen.
When I once mentioned to my students at
Columbia3 that I grew up in the “Wiener
Schule”, they looked at me in a way that I real-
ized they had no idea what I meant. I then asked
myself: what is the “Wiener Schule”? And I asked
my colleagues and listened to their long winded
explanations. They did not satisfy me. I finally
“I THEN ASKED MYSELF:
WHAT IS THE ‘WIENER SCHULE’?”
ERINNERUNGEN AN DIE STUDIENJAHRE IN WIEN
Erica Tietze-Conrat
(herausgegeben von Alexandra Caruso)
1 Zu Leben und Werk Tietze-Conrats sei auf die Arbeiten von Almut Krapf-Weiler verwiesen, insbesondere auf den
Band: A. Krapf-Weiler (Hrsg.), Erica Tietze-Conrat, Die Frau in der Kunstwissenschaft, Texte 1906–1958, Wien
2007. Die Herausgeberin bereitet zurzeit eine kritische Edition der Tagebücher Erica Tietze-Conrats vor, welche
voraussichtlich im Herbst 2012 im Böhlau Verlag erscheinen wird.
2 Der 1914 geborene zweitälteste Sohn des Ehepaars Tietze war ein international angesehner Turkologe. Er verstarb
2003 in Wien. Krapf-Weiler wies bereits 2007 auf das Typoskript hin, in: Krapf-Weiler, Die Frau in der Kunst-
wissenschaft (zit. Anm. 1), S. 286. Besonderer Dank gilt den beiden Enkeltöchtern Erica Tietze-Conrats, Dipl. Ing.
Kristin Matschiner und Dr. Filiz Tietze, daß sie dieses Dokument nun für diese Veröffentlichung zur Verfügung
gestellt haben.
3 Hans Tietze (1880–1954) erhielt 1954, in seinem letzten Lebensjahr, einen Lehrauftrag an der Columbia University in
New York. Nach seinem Tod übernahm seine Ehefrau Erica Tietze-Conrat die Lehrveranstaltungen. Diese Tätigkeit,
die sie bis 1956 ausübte, war für sie die erste Gelegenheit, an einer Hochschule zu lehren.
Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte
Band LIX
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte
- Band
- LIX
- Herausgeber
- Bundesdenkmalamt Wien
- Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch, englisch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78674-0
- Abmessungen
- 19.0 x 26.2 cm
- Seiten
- 280
- Schlagwörter
- research, baroque art, methodology, modern art, medieval art, historiography, Baraock, Methodolgiem, Kunst, Wien
- Kategorie
- Kunst und Kultur